Nachdem ich die Anfänge des Festivals regelmäßig begleitete, habe ich das Dockville in den letzten Jahren ein wenig aus den Augen verloren. Die Gründe: das Publikum wurde immer jünger, die Musik immer elektronischer, und überhaupt war früher ja bekanntlich alles besser. Also suchte ich mir kleine, charmante Open Airs unter anderem in Storkow und Mannheim, bis ich mich in diesem Jahr fragte, wieso ich eigentlich das Festival auslasse, das direkt vor der Tür liegt. Es bietet ja doch einige Vorteile, wenn man mit dem ÖPNV anreisen und zu Hause übernachten kann. Und dass man altert, lässt sich ja bekanntlich eh nicht vermeiden. Also, raus nach Wilhelmsburg, und mal schauen, wie sich das nach sechs Jahren Abstinenz so anfühlt.
Mein erster Eindruck: das Gelände und die Laufwege zwischen den Bühnen wurden ein wenig verlegt, ein bisschen musste ich zunächst herumlaufen, um mich zu orientieren. Glitzer im Gesicht ist nach wie vor sehr angesagt, das Publikum hat sich entsprechend der musikalischen Weiterentwicklung doch sichtlich geändert – Trap und die meisten Formen des deutschsprachigen HipHop werden in diesem Leben wohl trotzdem nicht mehr meine Freunde werden. Was mir aber doch sehr positiv auffiel, waren die vielen großartigen Kunstformen und holzgezimmerten Wohlfühlecken, die man in dieser Vielzahl und Perfektion auf anderen Festivals so nirgendwo findet. Anscheinend sind die Zimmerleute, die das Festival am Reiherstieg vor zwölf Jahren aufgebaut haben, noch immer tätig und schaffen neue Bühnen und Chill-Out-Zonen.
Musikalisch ging es am Vorschot mit PISH los, dem Soloprojekt des Gitarristen und Sängers von KAKKMADDAFAKKA. Ganz solo war Pål Vindenes zwar nicht, er hatte einen Kollegen an den Synthies dabei, ansonsten war er aber nur für den Gesang zuständig. So ganz geheuer schien Pål die Rolle als Solist noch nicht zu sein, jedenfalls wirkte er ungewöhnlich unsicher, ganz so, als befände er sich zum ersten Mal auf einer großen Bühne. Doch die Unsicherheit war gar nicht nötig, denn seine eingängigen Hits zündeten bereits beim ersten Hören und passten perfekt zum sommerlichen Wetter.
Die sommerliche Stimmung wurde auf der Maschinenraum-Bühne nahtlos fortgesetzt, denn dort spielte das GOLDEN DAWN ARKESTRA aus Austin, Texas. Musikalisch bewegte sich die Big Band irgendwo zwischen FELA KUTI und SUN RA, zwischen orientalischen Einflüssen, Psychedelic, Jazz und Afrobeat und zwischen Science Fiction und Seventies Funk. Dazu das beste Bühnenoutfit, das ich je gesehen habe: von Pharaonen über afrikanischen Kriegstänzern bis hin zu arabischen Scheichs, die wie ein intergalaktischer Zirkustrupp aus der Vergangenheit kontinuierlich über die Bühne wirbelten. Dass das Künstlerkollektiv im Anschluss an seinen Auftritt direkt von der Bühne ordentlich Vinyl verkaufte, wunderte da nicht. Bitte bald wiederkommen, könnte ich mir gut im Mojo vorstellen!
Für den nächsten guten Act musste man gar nicht die Bühne wechseln, denn im Anschluss waren BOY PABLO aus Bergen an der Reihe. Hinter dem Bandnamen versteckt sich Nicolas Pablo Muñoz als Kopf und Songwriter der Band, was vielleicht ein wenig erklärt, wie eine Band aus dem höchsten Norden ein solch karibisches Feeling versprühen kann. Neben Südsee-Klängen bedienen sich BOY PABLO genauso gerne aber auch am Sixties Pop, was hervorragend zu Nicolas‘ warmer Stimme passt, und erfreulicherweise umschiffen die Norweger gekonnt alle kitschig klingenden Momente aus der Popmusik, um direkt ins Herz ihrer Hörer zu zielen. Dass sich die Mitstreiter von Nicolas nicht allzu ernst nehmen, für Boygroup-artige A cappella-Passagen genauso zur Verfügung standen wie für stümperhafte Breakdance-Einlagen und Gitarrensoli-hinter-dem-Kopf-Momenten machte die Jungs in jeder Hinsicht sehr sympathisch. Toller Auftritt!
Was das Dockville auch sehr sympathisch macht, sind die bereits oben angesprochenen chilligen Wohlfühlorte, die sich nicht nur auf gemütliche Liegeplätze beschränken, sondern auch kleine Bühnen wie das Butterland umfassen. Da es uns am Vorschot bei MEUTE zu voll war, setzten wir unseren Weg gleich fort, bogen links ab und landeten vor einer kleinen Holz-Bühne, wo AMELI PAUL eine Art „elektronische Musik für Erwachsene“ machten. Soll heißen: von Beats und Synthies unterlegte analoge Klänge von der Gitarre (Paul), kombiniert mit teils sphärischem, teils klassischem Gesang (Ameli). Von diesem Duo aus Köln könnten sich so manche Eurovision-Song-Contest-Teilnehmer eine große Scheibe abschneiden.
Da bis zu dem Auftritt von PARCELS noch ein wenig Luft war, schauten wir kurz bei dem diesjährigen Hauptact vorbei, der, laut MOPO, für einen „Ausnahmezustand in Hamburg“ sorgte: BILLIE EILISH. Um ehrlich zu sein, war mir die junge Amerikanerin bis kurz vor dem Festival gänzlich unbekannt, jedoch hörte ich einen Radiobeitrag vorab, wo die Bookerin sagte, dass ihnen der Deal mit dem Dockville gelungen sei, weil die Künstlerin zum Zeitpunkt der Buchung noch relativ unbekannt war. Mittlerweile hat die 17jährige Kalifornierin allerdings mehr als 15 Millionen Platten verkauft und gilt laut Vogue als „Pop’s next It Girl“, was den Ansturm des größtenteils sehr jungen Publikums und Longsleeve-Preise von 45€ erklären dürfte. Musikalisch wurde eine (indie-)poppige Mischung aus Electronica und Triphop geboten, manchmal ein wenig düster, mitunter aber auch ein wenig an LENA erinnernd.
Weiter ging es am Vorschot, wo sich PARCELS auch nicht gerade über wenig Zuschauerzuspruch beklagen konnten. Die Australier und Wahlberliner, die bereits zum achten Mal in Hamburg spielten und sich in den letzten drei Jahren dabei vom kleinen Molotow über die Große Freiheit bis auf die zweitgrößte Bühne des Dockville hochgearbeitet hatten, sind inzwischen dermaßen eingespielt, dass ihre Mischung aus French House, 70s Disco und Yacht Rock dermaßen luftig leicht klingt, dass man den spielerischen Anspruch dahinter gar nicht mehr wahrnimmt. Weitere Sympathiepunkte sammelten sie, als sie dem Publikum anvertrauten, dass die Konzerte in Hamburg für sie immer ganz besonders seien, weil hier so viele Freunde zu ihren Shows kämen.
Zum Abschluss des ersten Abends wollte ich mich eigentlich, wie auch auf dem Maifeld Derby, durch HVOB in eine verträumte Stimmung versetzen lassen, doch was in Mannheim eher zart und sphärisch rüberkam, wurde auf dem Dockville durch viel zu laut abgemischte Bässe um jegliche Wärme beraubt – schade. Also, ab zum Shuttle-Bus und zurück nach Barmbek ins Bettchen!
Der Samstag begann wolkenverhangen, was auch zum musikalischen Programm passte. Den Maschinenraum konnte man quasi komplett ignorieren, weil dort heute fast ausschließlich Trap und Deutschrap geboten wurde, was keinen von uns interessierte. Insofern verlegten wir unsere Aufmerksamkeit am Nachmittag und frühen Abend auf die kleine Bühne mit Clubatmosphäre: das Butterland.
Los ging es mit OOI (ausgesprochen „Owi“, wie sie ihr Publikum wissen ließen), die aufzeigten, was in Zeiten des World Wide Web alles möglich ist: Verteilt über Japan, Italien und Deutschland trafen sich die drei Musiker zum ersten Mal zwei Jahre nach ihrer Bandgründung persönlich und hatten sich bis zu diesem Moment ausschließlich übers Internet ausgetauscht und Songs geschrieben. Herausgekommen ist dabei sehr leichtfüßiger IDM, bei dem man immer wieder japanische Einflüsse herauszuhören meint.
DAS MOPED aus Mainz machen Pop, irgendwo zwischen MÜNCHENER FREIHEIT, DIETER THOMAS KUHN und Karaoke-Bar. Was daran nun ernst gemeint und was ironisch ist, lässt sich bei Songtiteln wie „Alle wollen Liebe“ nicht so leicht unterscheiden – fest steht aber, dass man musikalisch von Bands wie BOY PABLO kaum weiter entfernt sein könnte, die zwar genauso sehr in der Popmusik verhaftet sind, den Kitsch aber nicht so dick auftragen wie die Pfälzer. Am Ende zählt, was funktioniert, und dem Publikum gefiel es. Meine Baustelle ist das nicht so.
Dann schon eher SOME SPROUTS, die zwar gute Melodien im Kopf haben, die aber in der Live-Umsetzung noch ein bisschen schief klingen. Insgesamt aber ein durchaus sympathischer Auftritt mit Einflüssen von Indie und Dreampop.
Im Anschluss wechselten wir für GIANT ROOKS zur großen Bühne, wo die Band aus Hamm trotz ihres jungen Alters tatsächlich schon ziemlich gut hin passt. Mich erinnern die fünf Jungs ein wenig an ALL THE LUCK IN THE WORLD oder auch an MIGHTY OAKS, mit denen sie bereits zusammen auf der Bühne standen. Leider ging ihre Entwicklung für meinen Geschmack zuletzt zu sehr in Richtung Mainstream, was man auch heute feststellen musste. Ein paar mehr Ecken und Kanten, so wie zu Beginn ihrer Karriere, stünden ihnen manchmal besser.
Die Frage, wen wir uns als nächstes anschauen könnten, wurde vom Wettergott relativ schnell und resolut entschieden – wer keine Open-Air-Dusche ersehnte, flüchtete schnell nach Hause oder ins sichere Zelt. Bis morgen!
Der Sonntag meinte es wettertechnisch wieder etwas besser mit den Dockville-Besuchern. Und da es uns gestern schon an der muckeligen Butterland-Bühne am besten gefiel, verbrachten wir auch heute die meiste Zeit dort. Programm am Sonntag: Garage Rock aus Australien. Könnte man sich genauso gut im kleinen Karatekeller des Molotow vorstellen, und tatsächlich haben alle drei Bands dort schon gastiert.
Eröffnet wurde das Programm im Butterland von HOCKEY DAD aus Windang, New South Wales. Dass die beiden Jungs aus Australien kommen, hörte man ihrem melodischen Punkrock an, wenngleich man auch das Gefühl hatte, an der einen oder anderen Stelle THE CRIBS oder die alten NIRVANA herauszuhören.
THE CHATS wollten wir im Anschluss daran zum einen wegen der heißen Vokuhila-Frisur ihres Sängers gucken und zum anderen wegen ihres britisch adaptierten STREETS-Slangs und ihrer SEX PISTOLS-Attitüde. Lustigerweise klang ihr Punkrock gelegentlich sogar nach AC/DC, wo sich der Kreis wieder schließt, da letztere ja bekanntlich auch aus Sydney kommen.
Die letzte Band im Butterland waren die SKEGSS aus Byron Bay, und sie rockten die kleine Bühne auf dem Dockville am meisten. Offenbar haben sie es perfekt verstanden, worauf es im Punkrock ankommt: eingängige Melodien, eine gewisse Leichtigkeit und das Ganze in knackige zweieinhalb Minuten verpackt. Da drehte das Publikum komplett durch, und als Eamon Sandwith von den CHATS noch hinzukam und Ben Reeds an der Gitarre ersetzte, der sich folglich nur noch um den Gesang kümmern musste, war die Stimmung am Höhepunkt. So sah man nach ihrem Konzert allerorts freudestrahlende verschwitzte Gesichter, zum Teil auch von bunten Holi-Pulver in den verschiedensten Farbtönen koloriert.
Und was hatten die anderen Bühnen am Sonntag noch so zu bieten?
Im Maschinenraum wurde HipHop von jungen Nachwuchskünstlern präsentiert, die ihre Songs im Lüttville-Workshops einstudiert hatten. Früh übt sich, wer ein großer MC werden will!
KAT FRANKIE wirkte mit ihrer Band, die einheitlich in Rot gekleidet war, wie auf einem Elbspaziergang vor 100 Jahren: ein wenig vornehm und distanziert, ja fast ein wenig aus der Zeit gefallen.
THE MAUSKOVIC BAND sorgten auf der Vorschot-Bühne bei Sonnenschein für exotisches Karibik-Feeling, während DRANGSAL zum einen New Wave- und Post-Punk-Fans auf ihre Seite zogen, die leichte Melancholie aber durch eine Menge Albernheit wieder ins Gegenteil verkehrten. Zum Abschluss des Festivals machten wir noch einen kurzen Zwischenstopp bei EX:RE, dem Soloprojekt von Elena Tonra, besser bekannt als Sängerin, Gitarristin und Songwriterin von DAUGHTER. Hatte man bereits bei ihrer Hauptband DAUGHTER noch nie das Gefühl, dass Tonra von allzu viel Fröhlichkeit heimgesucht wird, wirkte ihr Soloprojekt wie der Seelenstriptease nach einem Beziehungsende. Melancholisch, minimalistisch, fast ein wenig depressiv.
Ein guter Ausklang für ein abwechslungsreiches Festival, das insgesamt die Lust nach einer Fortsetzung im nächsten Jahr geweckt hat. Auch wenn uns nicht jede stilistische Ausrichtung gefallen hat, so bietet das Dockville doch immer noch genügend Ausweichmöglichkeiten, um drei Tage lang gut unterhalten zu werden. Wir werden uns sicher wieder sehen – ahoi!