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Indie.Cologne.Fest 2019 (Köln)

Wenn man 180 Euro oder mehr für ein Festivalticket zahlt, darf man zurecht einiges erwarten: Bands die wirklich alles geben; eine perfekte Festival-Organisation und Kommunikation; kurze Wege und großartige Bühnen; die Möglichkeit den Kunstschaffenden nahe zu sein; ungewöhnliches Streetfood, flexible Kinderbetreuung… usw.
In der Regel läuft das aber alles nicht so. Der Besucher ist einer von Zehntausenden, lässt sich mit einem bunten Bändchen etikettieren und marschiert Kilometer zwischen Bühne, Klo und Zelt. Wertmarken verlieren ihre Gültigkeit am Ende des Tages, auch wenn das Festival drei Tage dauert… das fühlt sich irgendwie mies an, aber was soll`s! Die Künstler sind dann doch nur auf der LED-Großbildleinwand nah, die Security findet es nicht so lustig, wenn man ohne richtiges Bändchen Backstage mal einfachein bisschen schnuppern möchte und schon verlieren die Füße die Bodenhaftung. Man steht im Regen und kann sich das Festival von außen ansehen, sofern die großräumigen Absperrungen einen Blick zulassen. Alles Scheiße. Langweilig. So langweilig. So unfassbar langweilig!
Aber ja, es geht auch anders. Natürlich.
Zum einen gibt es die Sub-Kultur, den Underground, die Mitbring-Festivals mit losen Absprachen. Wer tritt wann auf, wer spielt wie lange, und passt das überhaupt irgendwie zusammen und ist das überhaupt wichtig? Wo ist überhaupt dieser verflixte Ort? Das kann geil sein, manchmal aber auch anstrengend.

Zum anderen kann man es so machen wie Markus Sangermann. Er organisierte nun bereits zum sechsten Mal das Indie.Cologne.Fest. In seinem eigenen Format. Er holt sich Bands zusammen, die er persönlich gut findet. Freunde, Bekannte und deren Bekannte, irgendwo live gesehen und anschließend angehauen. Da ist die Haltung der Künstler wichtiger als das Genre. Markus gestaltet Eintrittskarten, Poster, Stoffbeutel, füttert die sozialen Netzwerke und kümmert sich um jeden einzelnen Act. Erst moderiert er die Bands an, kurz darauf steht er als interessierter Zuschauer vor der Bühne. Das Ganze realisiert zu mehr als fairen Preisen, zu günstig fast, man mag noch etwas mehr dalassen. Als Dankeschön quasi. Vielleicht verteilte deshalb auch am diesjährigen Festivalsamstag ein Besucher Eis für lau an die Thekenkräfte und Besucher. Einfach so. Der Ort für dieses besondere Festival könnte perfekter nicht gewählt sein: Das skurrile Odonien. Der vom Künstler Odo Rumpf geschaffene Ort für Kunst und Kultur, mitten in Ehrenfeld, zwischen Eisenbahn und Eros-Center. 100.000 Dinge gilt es im Odonien zu entdecken. Gespielt wird auf der Bühne, im Biergarten oder in der Garage. Während NEUSER spielt, schlurft ein Hippie zur Bühne und gießt die Geranien in den Blumenkästen. Funny!

Was darf man erwarten, wenn man 25 Euro für ein Festivalticket zahlt? Das Übernachten ist zwar auf dem Odoniengelände nicht möglich, dafür gibt es jedoch eine Mini-Aftershow-Party in einer Kneipe im Belgischen Viertel. Es spielen weniger bekannte Bands, aber auch die Senkrechtstarter LINGBY und BERND BEGEMANN. Und auch Rocco-Clein-Preistäger Eric Pfeil ist da mit seiner Band DIE REALITÄT. Uns interessieren natürlich die weniger bekannten Bands. Gerne könnt ihr den dreitausendsten Konzertbericht von Schwerenöter und Alt-Herren-Witze-Meister BERND BEGEMANN anderswo lesen. Oder dem Band-Alpen-Camping-Blog von LINGBY in den sozialen Netzwerken folgen. Zu sehen sind meist junge, gesunde, ausgeschlafene und gutaussehende Menschen in beinahe unberührter Natur. Mal fröhlich, mal ernst – wer das sehen möchte…wo wir doch so viele Probleme auf der Welt haben 😉

Stellvertretend für zwei tolle Tage seien hier nur zwei Künstler vorgestellt:
Der Berliner DOC SCHOKO und der Kölner DOMINIK JANSSEN. 2005 war ein komisches Jahr für mich. Nicht nur, aber auch deshalb: ich habe die Veröffentlichung von DOC SCHOKO auf Louisville Records verpasst. „Große Straße“ hieß das ungewöhnliche Ding, und das Indie.Cologne.Fest ist für mich alleine deshalb schon ein Erfolg, da ich dieses tolle Album und Christian Schulte solo im Biergarten des Odoniens erleben durfte. 2018 wurde dann „Stadt der Lieder“ auf Staatsakt veröffentlicht, Jochen Distelmeyer packte den Song „Hirnfriedhof“ auf sein Mixtape mit Lieblingsliedern („Coming Home“-Sampler). Welch große Ehre das sein muss! DOC SCHOKO ist Frickler, linke Socke, genialer Texter und mit allen Wassern gewaschen ungewaschener Lebenskünstler. „Hamburg, München. Rüdesheim, überall nur Altersheim. Köln, Berlin oder Wilhelmshaven, alle sind schon eingeschlafen. Wir müssen die Puppen tanzen lassen…!“ („Puppentanz“). Die Gitarren sind kreativ, der Sound ist historisch, der Auftritt ist ungewöhnlich, die Haltung ist sperrig – herrlich!

DOMINIK JANSSEN, Jahrgang 1975, ist Niederrheiner und bestens vernetzt in der Wahlheimat Nippes. Als Sänger von DECORDER und LUIEK setzte er kurzfristig immer wieder mal Akzente in der lokalen Szene. Wobei er im Grunde seit Jahren das macht, womit nun deutschsprachige Popgrößen haufenweise Geld scheffeln: emotionale deutschsprachige Popmusik. Bei DOMINIK JANSSENs Bandprojekten gesellten sich jedoch flirrende Gitarren, treibende Beats und Effekte plus Glockenspiel zum charakteristischen Gesang. Dies erinnerte immer wieder mal an den Londoner Folk-Frickler Adem Ilhan (ADEM) oder auch an SUFJAN STEVENS. DOMINIK JANSSEN hat eine unfassbar tolle raumeinnehmende Stimme in der Tradition eines NIELS FREVERT oder SVEN REGENER, die bei seinen Solo-Auftritten erst richtig zur Geltung kommt. Die Texte sind leicht und gleichzeitig so schwierig, dass sie zum Mitgröhlen ungeeignet sind. Im Odonien präsentiert DOMINIK JANSSEN sowohl ältere als auch neue Sachen, schön verspielt mit Effekten und Loops. Es wird gemunkelt, dass er demnächst wieder im Songpark-Nord Studio aufnehmen wird…

Eine kritische Anmerkung sei mir dann doch noch erlaubt: scheinbar immer mehr Bands können auf bestens ausgebildete Musiker und Musikerinnen zurückgreifen, Typ Gitarrenlehrer – nicht nur perfekt ausgebildet, sondern auch perfekt „Indie“-gestyled, das hat schon was von Karneval. Die Shows werden professioneller, jeder Ton sitzt. Langweilig.

Da lobe ich mir die verschwitzten 13jährigen auf dem Dorffest in Cornwall, die FRANZ FERDINAND im Festzelt covern – und alle, wirklich alle tanzten mit. Kleine Anekdote am Schluss: da ich zuerst die Toiletten nicht gefunden habe, sie waren in einer Art Zirkus-Löwengehege-Wagen versteckt, bin ich zur Toilette ins angrenzende Bordell gegangen. Von einer aufreizenden Dame auf der Treppe angesprochen, suchte ich die nächste Ausweichmöglichkeit. Das war leider ein Notausgang der auf die Feuerleiter führte. Hier traf ich einen irischen Dachdecker, der 1995 einen Deal mit dem Label BigCat hatte, die unter anderem PAVEMENT rausbrachten und, hier schließt sich der Kreis, Distelmeyers BLUMFELD. Wir rauchten eine Gauloises, und erst da bemerkte ich, dass die französische Bulldogge zu Füßen des Iren meine Schnürsenkel durchgeknabbert hatte. So was. Also, die 25 Euro für dieses Festival haben sich sehr gelohnt, ich habe viel erlebt. Die Kunstschaffenden waren wirklich nah, die Bands haben alles gegeben, die Auftrittsorte waren außergewöhnlich, die Wege kurz, die Festivalmacher-Haltung DIY.Indie.Cologne.

Links:
https://de-de.facebook.com/indiecolognefest/
https://m.odonien.de/about
http: //docschoko.de//
https://www.laut.de/Decorder

Jo Rößmann

Weiß nichts, kann aber alles erklären.