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JELLO BIAFRA & THE GUANTANAMO SCHOOL OF MEDICINE – Nostalgierausch in der Markthalle

Zugegeben: Bis ich über die entsprechenden Tourdaten gestolpert bin, hatte ich von dem Bandprojekt JELLO BIAFRA & THE GUANTANAMO SCHOOL OF MEDICINE noch überhaupt nichts mitbekommen. Wen hat der ehemalige Sänger der legendären DEAD KENNEDYS denn diesmal um sich gescharrt, um neue Songs zu schreiben? Ein Blick ins Internet gab schnell Auskunft: Mitglieder von FAITH NO MORE, VICTIMS FAMILY und FREAK ACCIDENT stellen seine aktuelle Begleitband, und nun sollten im Rahmen einer Europatour die musikalischen Ergüsse dieser Konstellation vorgestellt werden. Das klang doch recht vielversprechend!
Während sich PUNKTUCKE mit ihrem melodischen Deutschpunk hoch motiviert durch ihren Support-Slot spielten, füllte sich die Hamburger Markthalle an besagtem Abend mit immer mehr Menschen. Am Ende war der Laden annähernd ausverkauft und das Durchschnittsalter im Saal lag wohl irgendwo bei Ende dreißig. Nostalgie war angesagt: Eine Frau, der geschätzte 25 Jahre exzessiver Alkoholkonsum ins Gesicht geschrieben standen, humpelte an Krücken durch die Reihen, schwärmte vom sagenumwobenen DEAD KENNEDYS-Konzert 1982 in Hamburg-Harburg (mit SLIME, MDC und einer Hundertschaft der Bereitschaftspolizei hinter der Bühne) und verbreitete nebenbei noch das Gerücht, dass die MISFITS nächstes Jahr wieder in Originalbesetzung auftreten. Und Ostern kommt dann der Nikolaus, ist klar…
Dann war es soweit: Während seine Mitstreiter das erste Lied anspielten, sprang plötzlich ein älterer Herr auf die Bühne und ergriff das Mikrofon. Tatsächlich: Der Besitzer dieser einmaligen, tausendmal gehörten Stimme stand leibhaftig vor mir, sprang wie ein junges Reh über die Bühne und schnitt Grimassen zu dem Sound der Band, der eine Schnittmenge aus dem typischen DEAD KENNEDYS-Stil, Proto-Punk und vereinzelten Noise-Elementen darstellte. Als nach den ersten Liedern dann plötzlich „California über alles“ ertönte, gab es im Publikum kein Halten mehr. Anfängliche Bedenken, dass es vielleicht nicht so klug wäre, mit der neuen Band auf alte DK-Klassiker zurück zu greifen, wurden schnell ausgeräumt, denn alleine die offensichtliche Leidenschaft, mit der Jello Biafra den Song vortrug, rechtfertigte diesen Ausflug in die musikalische Vergangenheit. Dass Jello nach wie vor politische Inhalte sehr wichtig sind, zeigte sich neben den Texten auch in den Ansagen, in denen er neben dem Bankrott des Bundesstaates Kalifornien auch die Schattenseiten der Globalisierung oder Obamas mangelnden Aufklärungswillen der amerikanischen Kriegsverbrechen im Irak und Afghanistan thematisierte. Im Zugabenteil gab es schließlich mit „Holiday in Cambodia“ noch einen weiteren Punk-Evergreen zu hören, bei dem sich der mittlerweile 51jährige Sänger genüsslich dem Crowdsurfing hingab. „Fast so wie damals, 1982 in Hamburg-Harburg“, wird sich die oben erwähnte Nostalgikerin vielleicht gedacht haben.

Bernd Cramer

Konzert-Junkie & Vinyl-Liebhaber. Schreibt über Musik, ohne zu Architektur zu tanzen.