Dies war das erste Weihnachtskonzert von ERDMÖBEL in der alten Heimat Münster. Und es war auch das erste Weihnachtskonzert von ERDMÖBEL für mich.
Ich hatte schon vorab vernommen, dass es durchaus lustig werden könnte, und wer sich die Videos zu „Sie nannten ihn Putte“, „Hoffnungsmaschine“ oder „Ding Ding Dong (Jesus weint schon)“ ansieht, ahnt, was da auf einen zukommen könnte: Kollektives Gehenlassen, Rudelsingen, im schlimmsten aller Fälle sogar die Polonaise.
Und dann wird es alles genau so: In der Epiphaniaskirche in Münster finden sich etwa 450 Menschen ein, ausgestattet mit Glühwein, Bier und Wurst. Ekki Maas begrüßt Tanten und deren Kuchen-Freundinnen, der Pfarrer Frank Winkelmeyer heißt die Gemeinde willkommen und dazwischen wir, Mittvierziger in Fahrgemeinschaften aus den verschlafenen Wohnvororten mit Kindersittern zu Hause. Eigentlich ein Alptraum.
Wann genau der Funke übergesprungen ist, kann ich gar nicht mehr sagen. Auf jeden Fall hat das Orgateam einen gehörigen Teil dazu beigetragen: nach und nach wurde der Mittelgang der Kirche tanzenderweise durch diejenigen beackert, die gerade noch den Einlass kontrollierten. Vielleicht hat mich aber auch die Endsechzigerin gepackt, die mehr nach Gemeinde als nach Indie-Fanclub aussah: sie stand einfach in der Kirchenbank und sang mit geschlossenen Augen mantraartig und sanft wiegend „Das Leben is‘ schön! Ich kann eure Tränen nich‘ versteh’n. Das Leben is‘ schön! Ich kann es seh’n! Ich kann es seh’n!“ („Das Leben ist schön“, 2010).
Dann sieht man nur noch das Wesentliche, all die netten Menschen, die Band, die Gemeinde, die Freunde, die Bekannten, die Frau, die man liebt. Jawohl, ganz weihnachtlich gefühlsduselig und auch ein bisschen hirnzerfressen. Berauscht sehe ich mich selbst zu „Goldener Stern“ um die eigene Achse drehen, die Hände formen eine Sternenspitze über dem Kopf. Und dann geht sie los, die Polonaise – und da muss ich wirklich doch noch einmal schlucken, weil Polonaisen so ziemlich das Allerspießigste sind, was man sich als Konzertbesucher im Auftrag von Blueprint so vorstellen kann. Keine Chance, der Mob reißt alles mit, was nicht am Rollator klebt oder sich unter der Kirchenbank versteckt. Die Quittung kommt direkt: über Threema schickt mir ein Freund ein Foto, aufgenommen von der Empore und zu sehen… naja, bin ich, meine Hände auf den Schultern des Posaunisten. Himmel!
ERDMÖBEL haben wieder einmal alles richtig gemacht und ich bewundere sie dafür. Für ihre Lockerheit und Coolness. Genau dafür, dass sie sich nicht um „cool“ oder „uncool“ scheren und ein paar hundert Menschen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, so mal eben mit ihrer Musik glücklich machen können. Das ist eine besondere Gabe, live erlebt in der evangelischen Kirche der Erlösergemeinde in Münster. Ach ja, richtig: Erlösergemeinde! Hier haben höhere Mächte gewirkt.
Erlöste Grüße, 5-karätige Weihnachten und dann später alles Gute für 2019.
Jo Rößmann
Und zum Schluss, das muss sein, der Text zu „Erster, erster“ vom 2010er Album „Krokus“:
Erster erster
Ich bin vor mir da
Frohes neues Jahr frohes neues Jahr
Mitten könnt ich durch
reißen mich vor Glück
Kurz vorm Blick zurück
sind Raketen
über unter mir
Bienen und Böller
leuchtende Propeller
Sekt und Schneeregen
auf den Brücken stehn
rauf bis zero von zehn
kann ich mich zählen sehn