In den letzten drei Jahren hat sich das Elbjazz von einem abwechslungsreichen Jazz-Festival für musikinteressierte Menschen aus Hamburg und Umgebung zu einem der wichtigsten Festivals des Genres bundesweit entwickelt. Wobei die Festlegung auf den Begriff „Jazz“ genau genommen obsolet ist, da die Grenzen doch sehr weit gesteckt sind und gerne auch mal übertreten werden. Das hat zur Folge, dass sich auf dem Elbjazz-Festival auch viele Besucher tummeln, die mit Jazz sonst nicht so viel am Hut haben. Insofern kann man den Bericht von Verena und mir durchaus als Erlebnisbericht verstehen, während wir die konstruktive Konzertkritik den Fachmagazinen überlassen.
Verenas Bericht vom Freitag
(vv) So neu wie mir das Wort an sich, ist für mich der Umstand, ein Festival zu besuchen, auf welchem man „Privat Pagoden“ mieten kann. Bislang fühlte ich mich immer schon über alle Maße privilegiert, wenn meine Zeltstätte durch ein rot-weißes Absperrband vom Rest des Platzes abgetrennt lag. Nun geht es also zum gepflegten Elb-Jazzen: Audi-Shuttle Service, Komforttickets und Bühnen wie den Elbphilharmonie Vorplatz und das Stilwerk inklusive. Mit entsprechend hehr geschürten Erwartungen – man könnte auch behaupten latent voreingenommen: der stereotype „Jazzer“ gehört nun nicht meinem „Inner Circle“ an – erreiche ich die Fischauktionshallen, um mich in die kurze Schlange derer zu gesellen, die sich, ordentlichen zu Zweierreihen aufgestellt, zu legitimieren anstreben.
Um auch direkt mit der ersten Plattitüde des Wochenendes zu beginnen, die sich wahrscheinlich alle noch nicht Pensionierten hinter vorgehaltener Hand zuraunten: Verdammt, ich fühle mich nicht nur in bester Gesellschaft – sogar ich las den Knigge letzthin – nein, ich fühle mich jung!
Ja, das Publikum ist nicht nur augenscheinlich höflicher, sondern auch betagter. (Manchmal stellt sich ja eine gar schelmische Freude ein, wenn sich die eigenen Vorurteile auch direkt bestätigen.)
Frohen Mutes und auf ein gediegenes Abendprogramm eingestimmt, oder sollte man in diesem Fall sagen „gegroovt“, erreichen wir die St. Pauli Kirche gerade noch pünktlich zum Eröffnungskonzert. Wie tatsächlich noch öfter an diesem Abend werden die Letzten die Ersten sein, und so erhalten wir dank überfülltem Mittelschiff wunderbare Plätze mittig auf der Galerie direkt hinter Jesus´ Allerwertestem. Unser Glück, denn das JULIA HÜLSMANN TRIO mit MICHAEL SCHIEFEL als Vokalist bietet, basierend auf einer Notensammlung des Titels „Unsung Weill“, bislang Ungehörtes des beinahe inkohärent vielseitigen Komponisten. Die größtenteils gestrichenen Musicalnummern beeindrucken nicht nur aufgrund der wahnsinnigen kompositorischen Vielseitigkeit Weills, sondern vor allem auch dank der Darbietung Frau Hülsmanns Trios. Einen besseren Schlagzeuger gab es während des Festivals jedenfalls für mich nicht zu sehen. (Fairerweise muss ich einwerfen, dass ich dank Badezimmerselbstrenovierungsversuch – groteske Sympathien bezüglich Bauablaufplänen mit „Hoch-Tief“ als Folge – einen Teil der Konzerte mit dem Silikonieren meiner Fugen beschäftigt war.) Zweitens lasse ich mich als Grobmotorikerin mit Rechts-Links-Schwäche auch leicht von Körperteilen beeindrucken, die in entgegengesetzter Richtung Dinge tun können, die ich nacheinander nicht beherrsche, und trotzdem ein harmonisches Ganzes bilden. Aber ein Schlagzeuger, der es schafft, so diskret und bescheiden wie perfektioniert, die gesamte Performance zu bestimmen, ist tatsächlich selten. Wobei augenscheinlich im Mittelpunkt stehend Herr Schiefel die beste Besetzung für Lieder gemacht fürs Tanztheater nur sein kann: Von der expressionistischen Umsetzung einer an einen übellaunigen Vulkan mahnenden Nummer bis zur gehauchten Schnulzigkeit einer Mondanbetung bin ich von vom Herrn im schlecht sitzenden Cordanzug, der übrigens in frappierender Weise an den DIE SCHMUTZIGE SCHÖNHEIT DER NATUR-Sänger Fynn Steiner gemahnt, gefesselt (nur unterbrochen vom großartigen, fast Neue Musikesquen Schlagzeugspiel).
Da der Abend hier so vielversprechend beginnt und ich als Sitzplatz-Fan bestens bedient bin, stimme ich gern zu, für ENDERS ROOM zu bleiben. Es scheint traurig zuzugehen in Weilheim. Nur THE NOTWIST und nun ENDERS ROOM kennend könnte man aufgrund der durch zwei grundsätzlich genreverschiedenen Bands hervorgehobenen Melancholie und leiser Einkehr zu dem Schluss gelangen, dass dies kein fröhlicher Ort ist. Klingt nach nächstliegendem Urlaubsziel für mich. Hinein in wabernde Mollnebel beraten sich zwei hutzelige ältere Damen hinter uns, ob es des „Schielies“ allgemeine Popularität wohl rechtfertigen würde, die heiligen Hallen verfrüht zu verlassen. Alarmiert nutzen wir das Ende eines schier nicht aufhören wollenden Schlagzeugsolos und schleichen uns hinterher, um rechtzeitig zu CHILLY GONZALES´ Auftritt in der Fischauktionshalle zu erscheinen. Der erwartete Andrang ist nicht auszumachen, und so bleibt genug Zeit (45 Minuten), um es auf die Toilette und einmal an den Pommesstand zu schaffen. Das Konzert soll pünktlich beginnen, da bleibt noch Platz für ein Verdauungszigarettchen, denken wir uns. Kurzerhand durch einen offenen Seitenflügel vor die Halle geschlichen, schließt sich dieser direkt hinter uns, und wir blicken einer am Haupttor Einlass begehrenden Menge entgegen, die sich nun gar aus Zweierformationen ausbrechend traubenförmig anordnet und gen Tür schiebt! In einem mir selbst nicht mehr nachvollziehbaren Moment der Geistesgegenwart poche ich wie wild an den verschlossenen Flügel und erkläre dem äußerst unamüsiert schauenden Security-Angestellten meine prekäre Lage und begehre unter peinlichem Verweis auf meine Pressezugehörigkeit meine personelle Unverzichtbarkeit in der Halle entgegen der Regeln Einlass durch diese Tür. Gerade noch geschafft. Nun gut, die Zigarette kostete nicht nur ziemliche Nerven, sondern auch die letzte Möglichkeit auf einen Sitzplatz, und so drängen wir uns neben die Reihen vor die Fensterfront. Und nun kommt ein Moment, den ich schon seit Tagen vor mir herschiebe. Anscheinend muss ich zugeben, Schuld an dem nun folgenden Tumult zu sein. Denn kaum erklingen die ersten Akkorde, trommeln, sich anscheinend meine Frevelhaftigkeit zum Vorbild genommen, nicht Eingelassene und veranstalten einen immensen Geräuschpegel untermalt von fratzenartig herein brüllenden Gesichtern, welche vor den Fensterscheiben auf- und abspringen. Hätte ich nicht gerade erst „Land of the living dead“ gesehen, wäre dieser Umstand durchaus geneigt gewesen, dem doch eher dahinplätschernden Bühnengeschehen ein wenig Dramatik entgegenzusetzen. So visualisiere ich meine Großeltern, die, während Herr Gonzales Belanglosigkeiten von sich gibt, den Aufstand proben – so beklemmend wie absurd.
Aus der Halle den Aufständischen entkommen, stellen wir dann auch keine größeren Verwüstungen fest und können uns in die Schlange am Kai zum Übersetzen einreihen. Auch hier etwas verspätet kommen wir in den Genuss, als hinterer Teil der Wartenden mit einer kleinen Schute gefahren zu werden. Mondlicht in den strahlenden Augen, leichtes Elbschaukeln unterm Mors – wat moi.
Auf der Hauptbühne der Main Act des Abends: JAMIE CULLUM. Nun gänzlich unvoreingenommen, da ihn nur aus der Gala aufgrund berühmter Freundin kennend, kann ich das Geschehen auf mich wirken lassen. Die Dame trägt Pumps sowie überknielanges Plissee, körperliche Reaktionen beidergeschlechts auf musikalische Darbietung gehen gen Null. Man lauscht bedächtig mit Weinglas in der Hand (apropos: großartige Auswahl). Die Hände ebenso voll, bin ich jedoch so angetan, dass ich gar mitzuwippen wage und verschaffe mir so nebenbei einen Blick über das Geschehen. Die Blohm + Voss-Fahnen flattern im Wind, die Nacht wird kühler, und trotz allgemeiner, wiederkehrender Beteuerung „immerhin regnet es nicht“ stellt sich bei mir ein leichtes, die Stimmung nicht gerade anheizendes Frösteln ein. Diesem soll im Golem entgegengewirkt werden. Normalerweise immer für ein Tänzchen zu haben, scheint sich RADIO GRANULITPAVILLION PHUONG-DAN VS. BOOTY CARRELL bereits in der Namensgebung kreativ erschöpft zu haben. Immerhin ist die Türpolitik auch hier rigoros, so dass genug Platz für ein, zwei Verschnaufsektchen am Tresen ist. Glücklich und nur ein ganz klein wenig enttäuscht, dass sich mir keine Private Pagode zu erkennen gab, schlafe ich ein.
Jens´ Bericht vom Samstag
(jg) Gestern ging meine Erwähnung, dass im letzten Jahr alles noch viel besser war, am Ende fast als Running Gag durch. Aber man stellt immer wieder fest, dass die eigene Stimmung sehr vom Wetter abhängt. Und das war in diesem Jahr eher mau. Um nicht zu sagen: Hamburger Schietwetter. Da schätzte man sich letztendlich glücklich, dass viele der Austragungsorte überdacht waren und die Draußenbühnen auf dem Blohm + Voss-Gelände geteert und nicht begrast sind. Und auch der Fakt, dass die Wege in diesem Jahr kürzer waren, weil man als Spielorte Locations wählte, die näher beisammen lagen, kam dem Sonnenmenschen ganz gelegen.
Der Samstag begann für mich in der Fischauktionshalle mit THE BAD PLUS. Ich war ein wenig überrascht, dass der riesige Backsteinbau bereits so früh so gut gefüllt war. Denn mit allzu klassischem Jazz hat das Trio aus den Staaten nicht viel gemein. Vielleicht spielte das Wetter ein wenig mit rein, vielleicht blickt die Jazzhörerschaft aber doch ganz gerne auch mal über den Tellerrand. Denn wenn die Herren Iverson, King und Anderson NIRVANA covern, um im nächsten Moment Stravinsky anzustimmen und schließlich die Titelmelodie von Stromberg zu spielen, hat das mit Standards nicht viel gemein. Ansonsten kamen mir musikalisch das ein ums andere Mal auch das leider viel zu früh gegangene ESBJÖRN SVENSSON TRIO in den Sinn. Weil sich die Anfangszeiten für das CHRISTOPH STIEFEL INNER LANGUAGE TRIO verschob, blieb noch ein wenig Zeit für einen Blick in die Arche Noah. Ein Überbleibsel des Hamburger Kirchentages, das im Rahmen des Elbjazz auch als Spielstätte genutzt wurde. Und ein toller Ort, wenn man seinen Kindern die Bibelgeschichte anschaulich im Vorbeigehen näherbringen will.
Im Holzhafen Atrium bestand die Möglichkeit, sich im modernen Ambiente dem Jazz zu widmen, während im Hintergrund riesige Schiffe vorbeischipperten. Ein toller Ausblick auf die Elbe, bei dem es auch Arne Huber, Kontrabassist des Schweizer Trios, schwer gefallen sein dürfte, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Wobei dies dringend erforderlich sein dürfte, wenn man sich die vertrackten Songstrukturen der jungen Musiker vergegenwärtigt. Dass das Ganze aber auch noch ungemein groovte, macht die Sache umso spannender.
Im Anschluss daran setzten wir über zum „Am Helgen“, der neuen, dritten Open Air-Bühne auf dem Werftgelände. THE NOTWIST zählen zu den Bands, die es geschafft haben, sich in mehr als zwanzig Jahren stets neu zu erfinden und dabei Musik zu schaffen, die immer zeitlos blieb. Mein erstes Konzert der Weilheimer fand 1995 im Jugendzentrum Leer statt und hat mit THE NOTWIST im Jahre 2013 nur noch wenig zu tun, wobei sie auch heute noch Material von der „12“ spielten, die vor 18 Jahren erschien. Verglichen mit den letzten Konzerten der Weilheimer fiel das heutige Konzert tatsächlich etwas jazziger aus, die Betonung lag nicht selten auf den drei Bläsern, die sie heute zur Unterstützung dabei hatten. Ein tolles, abwechslungsreiches Konzert, das hoffen lässt, dass die Oberbayern noch viele weitere Jahre zusammen musizieren werden.
Leider konnte auch ich mich nicht von dem allgegenwärtigen Fußballfieber freimachen und musste mir, nachdem Bela Rethy den furiosen Beginn der Dortmunder lobte, doch zumindest die zweite Halbzeit des Champions-League-Finales ansehen. Das Elbjazz Festival stellte dafür eine Großbildleinwand zur Verfügung, die wirklich gut frequentiert wurde, doch ich zog die Wohnzimmeratmosphäre samt Großbildfernseher am Audi-Stand vor. Auch wenn Dortmund in den letzten Minuten eine Niederlage kassierte, war ich doch froh, dass ich mich wieder dem Wichtigeren zuwenden konnte: der Musik. GET THE BLESSING bestehen mit Clive Deamer an den Drums und Jimm Barr am E-Bass zur Hälfte aus Musikern von PORTISHEAD, die von Jake McMurchie am Saxophon und Peter Judge an der Trompete unterstützt werden. Und tatsächlich klingen die vier Herren aus Bristol wie eine Kombination aus Jazz und Trip-Hop, auch den Vergleich mit TORTOISE kann man durchaus stehen lassen. Dabei verstanden die vier Briten es vortrefflich, stets eine geschickte Gratwanderung aus eingängigen Parts und verqueren Bläsersoli darzubieten, die das Publikum abwechselnd forderte und genießen ließ.
Mittlerweile war der Samstag schon vorüber, wir entschieden uns für die Aftershow Party im kürzlich wiedereröffneten Mojo Club. Doch bevor wir in den Keller mit seinem schicken Interieur eintauchen konnten, hieß es ein wenig Schlange stehen. Ich frage mich ja oft, ob es vielleicht die Strategie eines Clubs sein kann, bewusst Leute vor der Tür warten zu lassen, um als viel gefragter It-Club wahrgenommen zu werden. Wirklich voll war es drinnen jedenfalls nicht, die Stimmung bei den letzten Songs des Kanadiers SOCALLED aber umso besser. Musikalisch wurde eine äußerst tanzbare Mischung aus Klezmer, Jazz und Funk geboten, das eigentliche Highlight der Show war aber das Entertainment des „Mad Professors“, das bis hin zu Zaubertricks alles zu bieten hatte, was man sich vorstellen kann. Für die Zugabe erledigte sich Herr Dolgin seines Oberteils, wahrscheinlich hätte er auch noch die ganze Nacht weiter spielen können, wenn die Entscheidung beim Publikum gelegen hätte. So aber gab es einen fließenden Übergang ins DJ-Set von QUANTIC & THE ORIGINAL JAZZ ROCKERS, das die Laune des Publikums mit einem tollen Mix aus Salsa, Funk und orientalischen Klängen problemlos aufrecht erhielt. Derweil freuen wir uns aufs Elbjazz 2014 und haben uns die Versprechung von Veranstalterin Tina Heine ins Notizbuch eingetragen, dass es im nächsten Jahr wieder gutes Wetter geben wird.