Winterplatten – Meine Top 5

Es ist der 2. Dezember, die Heizung steht auf brüll und der Blick durchs Fenster fällt wie in eine Schneekugel. Der Winter ist da und der braucht seinen eigenen Soundtrack. Musik enfaltet sich klimaabhängig. Ich kann nicht SUBLIME anmachen und dabei eine lange Unterhose tragen. Das wurde mir erst heute wirklich klar, als ich vor meinem CD-Regal stand und intuitiv ein Album raussuchte, das ich das ganze Jahr über verschmäht hatte, heute jedoch in den Player schob wie Plätzchen in den Ofen. Und was mich bewog zu dieser kleinen Top 5 meiner wärmsten Empfehlungen für die Eiszeit 2010.

THE PAPERBACKS – „An episode of sparrows“

Ich weiß noch, dass ich leicht enttäuscht war, als ich mir das Album das erste Mal anhörte. Kein echter Hit dabei, Lieder zu lang, ganz nett aber dümpelt so vor sich hin. Sympathisch war mir dieser leicht verträumte, charmant sperrige College Rock aber allemal. Heute morgen jedoch dann die Offenbarung. Wie selbstverständlich aus dem Regal gegriffen, aufgelegt, das Schneegemälde draußen bewundert, gelauscht, dann die Augen zugemacht und plötzlich wieder mit meinen Grundschulkumpels Micha und Daniel auf dem Regenrückhaltebecken Schlittschuh gelaufen. Ein Traum! Schöner zweistimmiger Gesang, schön mummeliges Piano. Hier geht es nicht um Hits, hier geht es um Stimmung. Die PAPERBACKS kommen passenderweise aus Winnipeg, wo die Winterjacke bekanntlich erfunden wurde. Sänger Doug Mclean war damals Gitarrist bei PAINTED THIN und steuerte schon zu deren Album „Clear, plausible stories“ einen entsprechenden Song bei (siehe nächse Platte).
Reinhören: http://thepaperbacks.bandcamp.com/album/an-episode-of-sparrows (empfehle „Letters vs. numbers“)

PAINTED THIN – „Clear, plausible stories“

Feierabendverkehr sei Dank, stand ich vor ein paar Jahren mal mit Kollege Breitfeld im Stau vorm Hamburger Dammtor fest. Verstehe bis heute nicht, wieso Millionen Menschen sich täglich diesem Wahnsinn aussetzen, während links die S-Bahn vorbeisaust und rechts die Radfahrer winken. Und abends dann mit dem Auto zur Fitness Company aufs Trimmrad oder wie? Absurd. Naja, wollte jedenfalls gerade kotzen, da ertönten plötzlich die mir bis dato völlig unbekannten PAINTED THIN mit ihrem Beitrag von einer Split mit SIXTY STORIES aus Breitfelds sonst so eintönigem Poppunk-Radio: „Christmas comes like a shot in the arm to vaccinate against signs of new hope“. Das saß. Eat this, Weihnachtszeit! Direkt abgefeiert und ohne zu überlegen alles zusammengekauft, was sie jemals veröffentlicht haben – das meiste schneller, politischer Punk. Doch die „Clear , plausible stories“ ist anders: melancholischer, wärmer, winterlicher. Und es beherbergt ebenfalls den oben zitierten fantastischen Song „Holiday“. Der Winterbock des Punkrocks, mal sagen. Ich zitiere bei dieser Gelegenheit gern Arne aus unserem Interview mit CAPTAIN PLANET: „Wer die nicht im Schrank hat, ist emotional völlig verarmt zu dieser Jahreszeit.“

THE BOOK OF DANIEL – „Songs for the locust king“

2007 im Rahmen des tollen Klangklangklang-Festivals im Berliner Schokoladen entdeckt und verliebt. Verstimmtes Klavier, böses Saxophon, raue Stimme, die auch besoffen noch prima passen würde, schwedische Ahahah-Uhuhuh-Backroundgesänge, teilweise etwas düster, suspekt, unheimlich, teilweise herrlich vergnügt und ein fast schon unverschämt großartiges Songschreibertum. Ein Album, bei dem ich mal auf Idee kommen würde, von einem regelrechten Werk zu sprechen. Dahinter steht Daniel Gustaffson, der sein Werk selbst am besten beschreibt:
„Die Platte beginnt mit einem Gebet an einem Flughafen. Dann erzählt ein Betrunkener in einer Bar Lügengeschichten über seine angebliche Boxerkarriere, während irgendwo ein junger Mann einen Karton mit Erinnerungen füllt. Seine Ex-Freundin sitzt im Fernsehsessel und beobachtet ihn dabei. In derselben Nacht befinden sich ein schwarzer Taxifahrer und ein junges, Regentropfen zählendes Mädchen im hinteren Teil einer anderen Bar, ihr Herz hat sich im Reißverschluss ihres Zippers verfangen. Papiervögel landen auf dem Fenstersims und singen Hymnen. An der Wand schreit ein Graffiti, während ein verwirrter Grabsteindichter und ein Mädchen, das versucht, seine Kalorienzufuhr mit Amphetaminen und Süßigkeiten zu kontrollieren, sich treffen, um gemeinsam das sonntägliche Baptistentreffen zu besuchen. Es geht um Schirme, mit denen man nicht länger fliegen kann, um das Planen des perfekten Verbrechens und um die ewige Suche nach demjenigen, der das Feuer, das in jedem von uns schlummert, entfacht! Der Rest dreht sich einfach nur um Liebe.“

ROLF UND SEINE FREUNDE – „Wir warten auf Weihnachten“

Gerade noch mit PAINTED THIN die weihnachtliche Impfnadel aus dem Arm gezogen, dann doch voll abgedrückt und nun im Weihnachtsrausch mit Rolf Zuckowski. Benebelt liegen wir auf dem Sofa und starren glückselig in die Lichter des geschmückten Tannenbaums, Engel fliegen durchs Zimmer und schießen mit hellen Sternen. Das Album ist die Liebe. Reinster Stoff Besinnlichkeit. Das, was das Christentum gerne wäre. Und Onkel Rolf der wohl liebste Mensch der Welt. Für wen dieses Album schon in der Kindheit der Soundtrack zum Plätzchen backen war, der wird nicht mehr davon loskommen. „Ich wünsche mir zum Heiligen Christ einen Kopf, der keine Vokabeln vergisst, einen Nachbarn, den unser Spielen nicht stört und ´nen Wecker, den niemand hört.“ Jo, von wegen nur für Kinder. Steht auch auf meinem Wunschzettel.
(Ursprünglicher Plattentitel: „Rolf und wieviel von seinen Freunden“)

JOHN K. SAMSON – „Provincial road 222“

Und wieder zurück nach Winnipeg. War noch nie da. Stell mir ein beschauliches Stätdchen versunken im Schnee vor, man wandert mit Fellmützen durch die Straßen in die Kneipen, klapprige Pickuptrucks am Straßenrand, in einem abseits stehenden Haus hinter vermoderten Fenstern spielt ein bärtiger Hinterwäldler nackt Twister gegen sich selbst… Ich guck zu viel fern. Außerdem weiß ich, dass Winnipeg kackhässliche Hochhäuser hat. Ganz im Gegensatz zu dieser beschaulichen Musik vom Geschichtenerzähler JOHN K. SAMSON, die mich doch eher in das erste Bild versetzt. Man lauscht ihm gebannt wie einem Märchenonkel. „I`m just your little ampersand“ – Ich bin nur dein kleines Kaufmannns-Und. Geht ja mal wieder gar nicht auf deutsch. Scheiß deutsch! „Provincial road 222“ ist eine ganz leise 7 Inch-Single mit drei wunderbaren Stücken. Neben Johns Gitarre und seiner Stimme aus Vanille-Eis gefällt mir in den ersten beiden liebevoll instrumentierten Songs besonders die gezupfte Violine, die verspielt auf dem Klavier tanzt. Beim dritten Stück hat der SAMSON doch einfach seinen eigenen Text in ein Choral von Johann Sebastian Bach eingebaut. Und das gefällt selbst mir ausgewiesenem Kirchenmusik-Hasser. Wenn das Heiligabend irgendwo gesungen wird, stell ich mich mit in den Chor.