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© by Lucja Romanowska

LETO – „Hauptsache wir durften zu so einer Zeit überhaupt ein Releasekonzert spielen“

LETO gehören derzeit zu meinen deutschsprachigen Lieblingsbands. Ihr aktuelles Album „Wider“ hat mich schwer begeistert, und auch die dazugehörige Release-Show im Molotow Backyard gehört zweifelsfrei zu den absoluten Hightlights eines ansonsten Pandemie-bedingt äußerst bescheidenen Konzertjahres. Insofern lag es geradezu auf der Hand, Sänger und Gitarristen Jannes einige Fragen zu dem Album und besagtem Event zu stellen. Viel Vergnügen beim Lesen!

Moin Jannes! Am 08. Oktober 2020 fand im Hinterhof des Molotows euer Release-Konzert unter Corona-Bedingungen statt. Mit welchen Gefühlen blickt ihr auf den Abend und dieses ungewöhnliche Konzertereignis zurück?
Das Konzert liegt nun ca. vier Wochen zurück, und an dieser Stelle sind wir erst einmal dankbar, dass wir dieses eine Konzert überhaupt spielen konnten. Das Molotow hat ein super Hygiene-Konzept umgesetzt, und zu dem Zeitpunkt schien alles sicher. Heute sieht die Lage ja leider schon wieder ganz anders aus. Wir hoffen inständig, dass das Molotow und auch all die anderen Clubs einen Umgang mit der superharten Situation finden und der Clubszene verstärkt unter die Arme gegriffen wird. Das Konzert war sehr aufregend für uns. Das war unser erstes Konzert seit ca. einem Jahr und entsprechend fühlte sich das alles ein wenig ungewohnt an. Wir waren uns nach dem Konzert alle einig, dass es ein komisches Gefühl war, vor sitzendem Publikum zu spielen. Es fühlt sich weniger wie etwas Gemeinsames, sondern vielmehr wie eine Präsentation/Darbietung an. Die Leute gucken aus sitzender Position auf die Bühne und man erahnt – auch aufgrund der Dunkelheit, in die man reinguckt – nicht wirklich die Reaktion. Finden die das cool oder scheiße? Man ist ein wenig lost. Der Kopf geht da nicht so schnell aus wie bei einem Konzert, bei dem die Leute sich bewegen. Nichtsdestotrotz war es dann superschön für uns! Vor allem, weil es bis zum großartigen Support ZOI!S geschüttet hat und es dann plötzlich aufgehört hat (Anm. d. Redaktion: Bei dem Bandnamen ZOI!S kann man eigentlich froh sein, dass es nicht auch noch gedonnert hat…). Ich merke hier beim Schreiben jetzt schon, wie stark mir das alles fehlt. Ich schätze, dass die folgenden Antworten entsprechend ausgiebig ausfallen ;).

An besagtem Abend habt ihr ja das Release eures zweiten Albums „Wider“ gefeiert. Meiner Meinung nach klingt das Album etwas runder als euer Debüt „Vor die Hunde“, welches stellenweise noch etwas ungestüm wirkte. Gibt es grundlegende Unterschiede bei dem Entstehungsprozess der beiden Alben?
Unser erstes Album „Vor die Hunde“ war ein Sammelsurium an Songs, die wir über Jahre geschrieben haben. Die besten haben es dann auf das Album geschafft. „Wider“ wurde hingegen gezielt und an einem Stück geschrieben. Dadurch sind die Songs auch enger aneinandergerückt. Im Sommer waren etwa 15 Songs fertig, von denen es dann zehn aufs Album geschafft haben. Wir haben unserem Produzenten Kristian Kühl immer wieder die neuesten Fassungen der Demos geschickt. Er hat wichtige Anstöße hinsichtlich Tempo und Stimmung gegeben, so dass das Album gewachsen ist. Im Studio selbst wurden bei den meisten Liedern nur noch Nuancen umgestellt. Es fühlte sich alles natürlich an. Wir sind nach wie vor extrem happy mit dem Album. Es beschreibt ziemlich gut, was wir können und wollen.

Dass Bands aus dem Indie- bzw. Post-Punk-Bereich Tapetenmuster in ihr Artwork integrieren, ist ja an sich nichts Neues. Doch anstatt für irgendeine geschmacksverirrte Retro-Variante habt ihr euch für das zeitlose Modell „Erfurt Raufaser“ entschieden. Welche Idee verbirgt sich hinter dem Artwork?
Es gab mehrere Ideen für das Artwork. Lange bestand die Idee, ein Bandportrait als Cover zu benutzen, weil das Album ein für uns so Persönliches geworden ist. Nach einigem Hin und Her ist das Portrait dann auf die Rückseite des Artworks gewandert. Raufaser steht für uns für ein hohes Maß an Biederkeit, die wir teilweise selbst in uns tragen und gegen die wir auf „Wider“ teilweise ansingen. Wir kriegen immer wieder zu hören, dass bei unseren Texten ein großer Interpretationsspielraum gefühlt wird. Die eine versteht den Text so, der andere so. Unsere Idee war, dass jede Person im übertragenen Sinn selbst entscheiden soll, womit sie die leere Raufaser füllen möchte. Auf der einen Seite spiegelt die Tapete also unsere Texte wider, auf der anderen Seite steht sie für die Textoffenheit, die wir der hörenden Person lassen. Verkopft finden wir immer geil. Die grundlegende Idee kam von Pascals Partnerin Elisa, woraufhin Julius Dettmer das Artwork dann umsetzte.

Du hast dich bei einer deiner Ansagen des bereits erwähnten Release-Konzerts ausdrücklich bei deinem Bruder bedankt, der dich beim Schreiben der Texte unterstützt hat. Es ist meines Wissens eher selten, dass Sänger für ihre Texte auf die Unterstützung Band-externer Personen zurückgreifen. Hast Du zu deinem Bruder generell ein so inniges Verhältnis, das diese Art der Zusammenarbeit nahelegt? Und wie muss man sich diesen gemeinsamen Prozess des Texteschreibens vorstellen?
Das Album „Wider“ war instrumental relativ schnell fertig. Bei uns entsteht immer zunächst der Instrumentalteil und anschließend wird getextet. Nachdem dann der Text fertig ist, wird wieder der Instrumentalteil überarbeitet usw. Für das Album hatte ich extrem viele Textideen. Es gab etliche Textfetzen, Themen, Zeilen in Memodateien auf dem Handy. Als die Instrumentalsongs fertig waren, stieg bei mir der Druck, und ich bin in eine kleine Schreibblockade gefallen. Als erstes habe ich mir in Hamburg einen kleinen Proberaum besorgt (wir proben sonst außerhalb Hamburgs). Zusätzlich habe ich immer wieder mit meinem Bruder telefoniert und über das Album gequatscht. Mein Bruder ist für mich eine Art Seelenverwandter, bester Freund und großer Bruder in einem. Bei Problemen kann er eigentlich immer weiterhelfen. Paul und ich haben auf „Vor die Hunde“ und auch hin und wieder bei „Wider“ zusammen getextet. Allerdings sind wir da nur produktiv, wenn wir an einer bestimmten Stelle festhängen und uns diese zusammen vorknöpfen. Bei der Schreibblockade gab es noch nicht mal mehr diese Stellen, sondern grundsätzliche Probleme. Mein Bruder Tjark ist dann irgendwann zu mir in den Proberaum gekommen und hat versucht zu helfen. Er spielt weder ein Instrument, noch schreibt er Texte. Allerdings liebt Tjark so ziemlich die gleiche Musik wie wir in der Band. Zunächst war es schon komisch, einem Außenstehenden Textideen zu erklären – dabei gibt man ziemlich viel preis. Mein Bruder hat irgendwann einen Stift genommen, Schlagwörter mitgeschrieben und diese auf von mir geschriebene Nananana-Melodien geschoben. Teilweise gab es auch nur Songthemen und noch keine fertigen Zeilen. Dann haben wir zusammen Mindmaps erstellt oder Bilder gezeichnet, um Zugänge zum Thema zu bekommen. Ich habe ihm Melodien angeboten usw. Wenn Tjark etwas nicht gut findet, erkenne ich das sofort. Ich habe also immer schnell inhaltliche Rückmeldung bekommen und konnte Ideen vertiefen oder verwerfen. Tjark war etwa alle zwei Wochen im Proberaum. Ich konnte dann knifflige Stellen besprechen. Teilweise hat Tjark sogar zu Hause an Strophen geschrieben und mir diese dann geschickt. So haben es einige Zeilen von ihm aufs Album geschafft. Wenn ich mich recht erinnere, kommen sogar einige Strophenwörter vom Song „Kammerflimmern“ von ihm. Auch der Songtitel „Katzenwäsche“ und einige Zeilen dieses Songs kommen von ihm. Die Band hat dann immer unmittelbar alle Ideen via Sprachnotiz bekommen und ebenfalls Rückmeldung gegeben. Ich hatte also doppelte Rückmeldung, was mir sehr geholfen hat. Da das Album sehr viele persönliche Themen bespricht, gibt es auch einen Song über meinen Bruder und mich. Er trägt den Titel „Auen und Orchideen“. Hier hat mein Bruder nicht mitgeschrieben. Am Release-Abend war es schon besonders, den Song das erste Mal vor meinem Bruder zu spielen.

Ein zentrales Thema dieser Texte scheint Selbstreflexion zu sein: Das kritische Hinterfragen der eigenen Vergangenheit und Gegenwart, der Umgang mit eigenen Fehlern etc. Steckt hierin der konkrete Wunsch, bei der Hörerschaft das Hinterfragen ihrer eigenen Verhaltensweisen zu triggern, oder handelt es sich eher um eine Art Eigentherapie, bei der es im Endeffekt egal ist, ob Außenstehende die Ideen, die in den Texten stecken, auch tatsächlich verstehen?
In erster Linie geht es bei mir beim Texten nicht um irgendeine Außenwirkung, sondern vielmehr um die eigene Auseinandersetzung mit Biografie und Gesellschaft. Auf dem Album gibt es genau diese beiden Stränge. Manche Songs erzählen nach, manche Songs fordern etwas, und manche beantworten auch eigene Fragen. Die gesellschaftskritischen Songs wie „Kammerflimmern“, „Blau“, „Rotenburg“, „Treibsand“ und „Terabyte“ sind für Hörende sicherlich besser zu verstehen, da ich hier Dinge plakativer aufziehe. Einen persönlichen Bezug haben die Songs trotzdem. Ich könnte niemals einen Song außerhalb meines eigenen Erfahrungsschatzes schreiben. Ich wüsste auf jeden Fall nicht wie. Songs wie „Klaue“, „Schatten“, „Keine Reaktion“, „Katzenwäsche“ und „Auen und Orchideen“ haben einen hohen autobiografischen Bezug und bewirkten im Schreibprozess tatsächlich so etwas wie eine Eigentherapie. Wir in der Band lieben Bands mit kryptischen Texten und mögen es generell, Texte zu analysieren. Die Message des Textes wird so super persönlich und individuell oder bleibt Jahre verborgen und wird dann viel später erst vom Hörenden gecheckt. Manchmal reichen mir auch einzelne Textzeilen, um ganze Songs zu verstehen bzw. eine Stimmung zum Song zu entwickeln. Plakative Texte, die einfach nacherzählen und deutlich sagen, was sie wollen, finde ich gerade im deutschsprachigen Bereich oft zu platt. Da läuft man immer Gefahr, dass es cheesy wird. Ich kenne auch viele Leute, die plakative Texte bevorzugen und Bands mit kryptischen Texten als verkopft und pseudointellektuell abstempeln. Die sollen sich dann einfach unseren Song „Rotenburg“ anhören. Mit dem habe ich aufgrund des plakativen Charakters am meisten Probleme ;).

Für „Kammerflimmern“ habt ihr mit Jörkk Mechenbier auch einen prominenten Gastsänger gewinnen können. Hierbei geht es offenbar um mehr als bloß ein gewöhnliches Feature, denn wenn ich es richtig verstanden habe, verbindet euch auch eine Art Freundschaft. Wie kam es dazu?
Wir sind alle LOVE A-Fans und kennen Jörkk daher schon lange von Konzerten. Ich weiß gar nicht mehr, wie wir ihn genau persönlich kennengelernt haben. Ich glaube, auf einem Promokonzert zu „Vor die Hunde“. Zusätzlich ist Jörkk mit SCHRENG SCHRENG & LALA und LOVE A auch auf dem Label Rookie Records, bei dem wir ebenfalls unter Vertrag stehen. In Hamburg läuft man sich dann permanent auf Konzerten über den Weg, trinkt was, sabbelt… Richtig witzig wurde es, als er mit uns auf Pauls Hochzeit gespielt hat. Die Proben waren in jeglicher Hinsicht intensiv. Es gibt extrem viel belastendes Videomaterial vom Hochzeits-Gig, auf dem wir als Zugabe eine Metal-Version vom LOVE A-Song „Windmühlen“ gespielt haben. Uns wurde von Menschen berichtet, die sich vor Schreck auf dem Klo eingeschlossen haben… Später hat Jörkk uns dann noch Kristian als Produzenten empfohlen. So kam dann auch irgendwann das wunderbare Feature zustande. Jörkk hat unglaublich beeindruckend abgeliefert. Wir haben uns beim Einsingen auf jeden Fall mit großen Augen angeschaut.

Zum Abschluss dieses Interviews noch einmal zurück zu eurem Release-Konzert. Angenommen, ihr könntet in die Vergangenheit reisen, es gäbe keine Corona-Pandemie und ihr hättet die Möglichkeit, den Konzertabend ohne Rücksicht auf irgendwelche Kosten und Mühen zu gestalten. Wie wäre dann der Abend des 08. Oktober 2020 verlaufen?
Wir hätten definitiv nicht so viel getrunken, weil am nächsten Tag noch ein Anschlussgig gewesen wäre. Wir hätten den Abend aber auf jeden Fall trotzdem im Molotow gemacht, weil es ein totales Herzens-Venue ist. Wahrscheinlich hätten wir oben in der Sky Bar gespielt. Wir hätten den Abend genau so haben wollen, wie er schlussendlich auch unter Pandemie-Bedingungen abgelaufen ist. Unsere beiden Freunde Jolle (der auch das Artwork gemacht hat) und Mö haben vor, zwischen und nach den Bands aufgelegt. Das war extrem schön. Ein paar sich bewegende Leute wären schön gewesen und hätten den Auftritt sicher noch ein wenig lockerer gemacht. Auch die kack Plexiglaswand (die für unseren Mischer Claas ein Traum war) hätte an einem normalen Abend nicht sein müssen. Wir waren dadurch irgendwie isoliert. Achja, unseren Backdrop in Raufaser-Optik hätten wir auch gerne aufgehängt. Aber alles egal – Hauptsache wir durften zu so einer Zeit überhaupt ein Releasekonzert spielen.

https://www.facebook.com/letohamburg/

Bernd Cramer

Konzert-Junkie & Vinyl-Liebhaber. Schreibt über Musik, ohne zu Architektur zu tanzen.