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FORCE ATTACK 2008 – Punkrock, Suff & Ostseestrand

Tag 1: Pöbel & Gesocks unterwegs

Obwohl in Rövershagen kein einziges Hinweisschild den Weg zum Festivalgelände deutet, kann man die an sich eher unscheinbare Landstraße nicht verfehlen: Hunderte Iro-Punks pilgern vom Bahnhof zur 6 km entfernten Wiese und ziehen dabei Sternburg Export-Kisten an ihren Nietengürteln hinter sich her. Ich möchte sogar soweit gehen zu behaupten, dass sich in einem gut sortierten ostdeutschen Getränkemarkt keine einzige Sternburg-Kiste finden lässt, deren Boden nicht vom Abrieb auf mecklenburgischem Asphalt lädiert ist. Streetpunk rules! Wir beneideten die tapferen Wanderameisen nicht, sondern ließen uns mitleidig einen bereits Freitag Mittag völlig stramm am Wegesrand dahinvegetierenden Siffpunk auf die Rückbank laden, um die Person, wie seinen Kumpels versprochen, am Festivaleingang wieder auszuladen. „Punke sehr!“ – „Siffe schön!“.
Was ich am Force Attack sehr zu schätzen weiß, ist seine Übersichtlichkeit. Mit seinen etwas über 13.000 Besuchern hat man es nie weit vom Zelt zur Bühne, und die Tatsache, dass man direkt neben dem Zelt parken kann, erspart einem doch eine Menge mühselige Schlepperei. Wir suchten uns ein idyllisches Plätzchen in der hintersten Ecke des Ackers, nur 15 Meter von einem Wassergraben entfernt, der wunderbar als Toilette dienen konnte. Zelt aufbauen, Bier aufreißen, Grill anfeuern. So lässt es sich leben…
Zum Ende der EIGHT BALLS ließen wir uns dann auch auf dem Festivalgelände blicken. Die letzten Stücke verliehen uns nicht das Gefühl, etwas Großartiges verpasst zu haben. Räudiger Streetpunk mit gepflegtem Assi-Charme halt. Interessanter waren da schon die Fußball-Skins THE BUSINESS. Schön, mal ein paar ihrer alten Klassiker live zu hören, die Jungs selber entpuppten sich aber nicht gerade als sonderlich sympathische Zeitgenossen, sondern wollten wohl ihr „Bad Boy“-Image pflegen. Und schön patriotisch mit England-Banner als Backdrop. So etwas haben wir gerne, sich erst vor der EM drücken und dann auf dicke Hose machen… Nach einer Bierpause folgte auch schon der nächste UK-Punkklassiker: ANTI-NOWHERE LEAGUE! Trotz peinlicher Motorradrocker-Outfits konnten die alten Säcke punkten und ratterten elanvoll ihre zahlreichen Hits runter. „Fucked up and wasted“, „So what?“, „Let’s break the law“ – doch Moment, wo war „For you“? Mein Favorit wurde scheinbar einfach von der Setlist weg rationalisiert. Sauerei! Doch ungekühlter Tetrapak-Sangria tröstete über diesen Umstand hinweg.
COR wurden verpasst, KNORKATOR auf ihrer Abschiedstour nur noch am Rande miterlebt und bei den mächtigen KASSIERERN sprang mein Organismus scheinbar auf den Selbstschutz-Modus um und ließ mich von all den Nackedeis vor und Fistingeinlagen auf der Bühne nichts mehr mitbekommen. Dass ich am nächsten Morgen beim Pinkeln in den Wassergraben bei unserem Zelt Zeuge wurde, wie meine eigene Unterhose vom Vortag an mir vorbei trieb, hatte (zum Glück!) aber definitiv nichts mit dem KASSIERER-Gig zu tun, sondern war anderen Umständen geschuldet. Nein, fragt lieber nicht…

Tag 2: Satz mit „X“ – war wohl nix!

Respekt an unsere Zeltnachbarn: Den Platz mit „Psycho dad“ in voller Lautstärke zu wecken, hat Stil! Kein Respekt an ungekühlten Tetrapak-Sangria: Der Schädel pocht, und die Zunge fühlt sich an, als wäre sie mit einer Rolle Erfurt Raufaser tapeziert worden. „Ist doch gar nicht wichtig – Biertrinken ist wichtig“, wussten dagegen VOLXSTURM zu berichten und gaben einen ansprechenden Opener ab, wobei sie als Mecklenburger quasi ein Heimspiel hatten und folglich auch schon zahlreiche Leute aufs Gelände lockten. EMSCHERKURVE 77 entlockten uns dagegen eher ein Schulterzucken und gaben Anlass zu einer kleinen Shoppingtour, die ich mit einer westdeutschen Originalpressung von SEX PISTOLS‘ „Never mind the bollocks“ (eine schlechte Kassettenaufnahme dieser Platte hat mich im zarten Alter von zwölf Jahren zum Punk gebracht!) sowie einer SOCIAL DISTORTION-Compilation mit Demos und Outtakes der „White light, white heat, white trash“-Sessions mehr als zufrieden beenden konnte. Zur Feier direkt mal am Cocktailstand einen Caipirinha geordert – macht man den nicht eigentlich mit Limettensaft? Hier jedenfalls nicht! Stattdessen direkt Eis, Limetten und Rohrzucker in den Becher geworfen, bis zum Anschlag Cachaca drauf, fertig. Schmeckt spritig, macht lustig. Das Geschmackserlebnis wurde kurze Zeit später noch einmal deutlich unterboten, als wir Ilka von R4Rules treffen und einer ihrer Begleiter uns einen Becher mit pisswarmer Flüssigkeit in die Tatze drückte. Was zum Teufel war das denn Widerliches? „Korn mit Zitronenteegranulat. Lag nur leider etwas in der Sonne…“ Na dann prost! Gut angeschossen haben wir glatt die erste Hälfte von DEADLINE verpasst, die zweite Hälfte war aber auf jeden Fall super! Poppiger Streetpunk mit einer fantastischen Sängerin und jeder Menge Live-Power! Muss ich mir auch mal im Club anschauen, wenn die Engländer mal wieder hier auf Tour sind. FRONTKICK waren auch überzeugend und posten im Zelt, was das Zeug hielt. Nach einer leckeren Ska-Einlage von MARK FOGGO’S SKASTERS trieb uns der Hunger zurück zum Zelt. Grillen, Bierchen, noch ein Bierchen und dann der ernüchternde Blick auf die Uhr: SPRINGTOIFEL verpasst, THE BOTTROPS verpasst – so ein Scheiß! Aber der Abend sollte mit den SKEPTIKERN, TURBO AC’S und DRITTE WAHL ja noch diverse andere Highlights bereit halten. Dachte ich zumindest zu dem Zeitpunkt…

Tag 3: „Ordentlich Gaffa-Tape um die Leber, dann hält die schon!“

So langsam sollte ich mich vielleicht von dem romantischen Gedanken verabschieden, Festivals zu besuchen, um Bands anzusehen, die mir gefallen. Denn es kam natürlich alles ganz anders, als am Vorabend geplant: Bei den SKEPTIKERN war ich zunächst geistig noch anwesend, in der zweiten Hälfte des Sets nur noch körperlich. Bei den TURBO AC’S soll ich Augenzeugenberichten zufolge voll wie ein Fanfest über den Rasen gewankt sein, bei DRITTE WAHL war ich dann ganz verschwunden. Also, liebe Kinder: Finger weg von Zitronenteegranulat!
SEXTO SOL eröffneten heute vor einer zunächst eher mauen Kulisse, die nach und nach immer weiter anwuchs und sich schließlich bei strahlendem Sonnenschein zu einer berauschenden Latin-Ska-Punk-Party entwickelte. Das Bier mundete da doch glatt trotz des Fiaskos vom Vortag auch schon wieder vorzüglich. Auf der Zeltbühne folgte darauf DIE Überraschung des Festivals: Die Volksdorfer erzählten im Vorfeld, BRUTAL POLKA aus Tel Aviv muss man unbedingt gesehen haben. „Na gut“, dachte ich mir und folgte dem Rat. Die nachfolgende Dreiviertelstunde geht wohl als einer der amüsantesten und kuriosesten Momente ein, die ich jemals bezüglich eines Liveauftrittes erlebt habe: Fünf als Papst (!), Superman, Zahnfee, Darth Vader und Hannibal Lecter verkleidete Freaks sprangen auf die Bühne und legten einen unglaublichen Auftritt hin. Musikalisch wie eine Mischung aus alten NOFX und den DEAD KENNEDYS, dazu völlig schizophrene Keyboard-Melodien. Wenn Israelis „Walk like an egyptian“ covern, wirkt dies ebenfalls recht amüsant, und auch ansonsten ging es in den englichen Texten sehr humorvoll zur Sache. Der „Papst“ entledigte sich schließlich seines Kostüms und sprang nur noch in Unterbuchse über die Bühne, und auch der geschätzte 150 Kilo auf die Waage bringende Gitarrist entledigte sich zum Leidwesen aller Anwesenden zunächst seines Superheldentrikots und zog sich im Anschluss noch die Hose bis unter den Arsch. Wusstet ihr eigentlich, dass auch Männer Cellulite bekommen können? Ich jedenfalls bin seit diesem Wochenende schlauer. Ansonsten: Ganz starke Show!
Die CAFÉSPIONE sind eine SCHLEIMKEIM-Coverband. Sollen sie mal machen, ist mir aber recht wurscht. Deutlich gespannter war ich auf die DIMPLE MINDS: Die Edel-Prolls waren einst die Helden meiner Jugend, die assigen Trinker-Hymnen lieferten den Soundtrack zu so manchem komatösen Besäufnis im elterlichen Partykeller. Live kam ich jedoch noch nicht in den Genuss ihrer Konzerte, und um es vorweg zu nehmen: Meine ohnehin schon nicht sonderlich hoch gesteckten Erwartungen konnten die Bremer nicht erfüllen. Anstelle der alten Hits wurde überwiegend neuerer Kram gespielt, aus der Zeit, wo die Band musikalisch für Punkrocker schon längst irrelevant geworden ist. Kein „Blau auf dem Bau“, kein „Böse Buben“, kein „Pfandpiraten“. Dazu klang es so, als ob die in OP-Kittel gehüllten (*gäääähn!*) Bandmitglieder schon längere Zeit keine Instrumente mehr in die Hand genommen hatten. Nach einer knappen halben Stunde machte ich mich vom Acker. Sollten die alten Hits am Ende des Gigs doch noch zum Einsatz gekommen sein, so war mir das mittlerweile auch egal. Das, was ich mir von den DIMPLE MINDS erhofft hatte, war einfach nicht mehr zu holen.
Auf dem Campingplatz stieg unterdessen die traditionelle Dosenschlacht, die allerdings seit der Einführung des Dosenpfands überwiegend mit leeren Konservenbüchsen stattfindet. Also schnell mal ein wenig Straßenkampfpraxis gesammelt und ein paar Eintopfdosen per Luftpost in Richtung der „Widersacher“ geschickt. Schneeballschlacht im Sommer, sozusagen.
Pünktlich zu KNOCHENFABRIK meldete ich mich vor der Bühne zurück. Dass die Kölner, die hier eines von vier „einmaligen“ Reunionskonzerten spielten, zu einem heimlichen Headliner des Festivals mutieren würden, war bereits im Vorfeld abzusehen. Von den Ausmaßen war ich aber letztendlich doch überrascht: Tausende von Fäusten reckten sich in die Luft, tausende von Kehlen sangen sämtliche, vor Zynismus triefenden Texte der ehemaligen deutschen Punklegende mit. Im Gegensatz zu früheren Zeiten wirkten KNOCHENFABRIK erstaunlich nüchtern und spielten einen überzeugenden Auftritt. Als am Ende „Filmriss“ angespielt wurde, gab es endgültig kein Halten mehr. Die Hymne zur ultimativen alkoholischen Selbstzerlegung wirkt nicht umsonst wie maßgeschneidert fürs Force Attack.
Im Anschluss an die Kölner zu spielen, war somit keine dankbare Aufgabe. TALCO meisterten sie jedoch mit Bravour. Mit ihrem politischen Ska-Punk gewannen die Italiener im Handumdrehen die Herzen und Tanzbeine ihrer Zuhörer. THE UNSEEN gingen mit ihrem kraftvollen Streetpunk etwas direkter zur Sache, konnten sich aber ebenfalls durchaus hören lassen. LOS FASTIDIOS-Konzerte sind mittlerweile Selbstgänger. Die sympathischen Antifa-Glatzen brachten mit ihrem hymnischen Streetpunk und gelegentlich eingestreuten Ska-Songs die Meute zum Brodeln und wurden schwerstens abgefeiert: Antifa-Fahnen und Bengalfackeln sind häufig gesehene Utensilien auf ihren Konzerten. Die Stärke von THE REAL MC KENZIES liegt dagegen eher im Konsumieren von Whiskey. Stimuliert von diesem bekömmlichen Destillat schütteln die Kanadier mit schottischen Wurzeln seit Jahren einen Folkpunk-Hit nach dem nächsten aus dem Ärmel und sind auch hier an der Ostsee immer wieder gern gesehene Gäste. SMOOTH LEE, die für die kurzfristig abgesagten BETAGARRI eingesprungen sind, wussten mit ihrem Ska-Punk ebenfalls zu gefallen, wurden von uns aber aus getränkelogistischen Gründen nicht bis zum Ende begutachtet. Während PETER & THE TEST TUBE BABIES mit „Banned from the pubs“ einen der bekanntesten Punkrock-Klassiker aller Zeiten schmetterten, klebten wir auf ein Schlummertrünkchen am Tresen.

Tag 4: The day after

Das Szenario hatte irgendwie etwas von dem Film „Mad Max“: Autos fahren durch den Staub, auf den Motorhauben und Autodächern tummeln sich bis zu einem halben Dutzend Menschen und erhaschen auf diese Weise eine kurze Mitfahrt. Abgerissene Gestalten wanken bei vor Hitze flimmernder Luft durch die Gegend. Und wohin man sieht, steigen schwarze Rauchwolken zum Himmel auf. Müllentsorgung nach Force Attack-Art: Einfach das verranzte Zelt abfackeln, Campingstühle, Abfälle und sonstigen unnötigen Ballast dazu werfen, fertig ist die Laube. Alle paar Minuten kann man dumpfe Explosionen von halbvollen Gaskocherkartuschen vernehmen, die ebenfalls kurzerhand unter dem Jubel der Umstehenden mit verbrannt werden. Ungefährlich ist was anderes. Und auch einen Kleinwagen scheint es in der Nacht zuvor erwischt zu haben, er steht ausgebrannt in der Gegend rum und muss für zahlreiche Souvenirfotos herhalten. Was geht bloß in den Köpfen mancher Leute ab? Nach drei Tagen Festival anscheinend nicht mehr viel.
Wir beschlossen, unser Zelt ohne Zuhilfenahme eines Feuerzeugs zu entfernen und strichen trotz des hervorragenden Sommerwetters unseren ursprünglichen Plan, den Mittag am nahe gelegenen Strand zu verbringen, da uns andere Bedürfnisse (überwiegend sanitärer Art) wichtiger erschienen. Auf der unscheinbaren Landstraße Richtung Bahnhof passierten wir erneut eine Kolonne junger Punks, die Sternburg Export-Kisten an Nietengürteln hinter sich herzogen: Asphalterprobten Leergutnachschub fürs nächste Force Attack.

Bernd Cramer

Konzert-Junkie & Vinyl-Liebhaber. Schreibt über Musik, ohne zu Architektur zu tanzen.