Täglich grüßt das Murmeltier und jährlich ruft das Reeperbahn-Festival. Dann heißt es ab Anfang September wieder: so langsam mit dem Durchhören der rund 500 Bands anfangen, von denen man vorher maximal ein Viertel kennt. Das erfordert viel Zeit, auch viel Muße, und es macht nicht immer Spaß. Aber es lohnt sich, denn am Ende kennt man 500 neue Bands und auch einen Teil ziemlich guter neuer Bands.
Doch leider kollidierte die alljährliche Routine wie auch im letzten Jahr wieder mit einer Tagung in Frankfurt. Mist! Denn so fiel für mich der Mittwoch komplett aus und der Donnerstag zur Hälfte.
Aber es blieben noch genügend Bands über, die wir sahen. Und es waren einige tolle Bands dabei, die wir Euch natürlich nicht vorenthalten wollen. Allerdings äußerten mehrere Personen den Eindruck, dass es 2019 noch voller war als in den Jahren zuvor. Das führte dazu, dass man das beliebte Konzert-Hopping vorsichtshalber sein ließ und sich stattdessen lieber bestimmte Konzerte komplett ansah. Denn das Risiko war einfach zu groß, dass die Türsteher vor dem Club einen Einlass-Stopp durchsetzten, insbesondere vorm Molotow bildete sich oft eine bis zu 100 Meter lange Schlange, die von den Besuchern viel Durchhaltevermögen abverlangte.
So begann unser Donnerstag Abend auch nicht mit BILK im Molotow Backyard oder ALFIE TEMPLEMAN in der Sky Bar, sondern mit DANAI NIELSEN auf der Spielbude. Bisher ist die Griechin eher im Bandkollektiv aufgetreten, doch nun war es anscheinend Zeit für ein Soloprojekt. Dabei war man sich nicht sicher, ob sie sich als Katze verkleidet hatte oder eine kosmische Kunstfigur darstellen wollte. Jedenfalls schien sie auf klassische Songstrukturen keine Lust mehr zu haben und zelebrierte stattdessen einen sehr eigensinnigen Stil, für den Journalisten wohl irgendwann den Begriff „Artpop“ definiert haben. Für meinen Geschmack wären weniger Effekte auf dem Gesang von Vorteil gewesen, aber Einfallslosigkeit kann man DANAI NIELSEN sicherlich nicht vorwerfen.
Viel zu früh machten wir uns auf den Weg in den Grünen Jäger, um auf keinen Fall den Auftritt der FOREIGN DIPLOMATS zu verpassen. Ihr letztes Album „Monami“ schnitt ja bereits sehr positiv bei uns ab, ihr Debüt „Princess flash“ gefällt mir sogar noch mehr. Kamen mir dabei an erster Stelle GOLDEN KANINE als Referenz in den Sinn (mehrstimmiger Gesang, folkiger Sound), würde ich dies nach dem Konzert noch um die FOALS (Tanzbarkeit) und PARCELS (rhythmische Präzision) ergänzen. Ein toller Auftritt, demnächst wird hier auch noch ein Interview folgen. Checkt die Jungs aus Quebec auf jeden Fall aus – es lohnt!
Zum Abschluss des Donnerstags schauten wir im Nochtspeicher bei VON SPAR vorbei. Ich war fast ein wenig überrascht, dass es die Band überhaupt noch gibt. Die zweite Überraschung: VON SPAR sind verdammt zugänglich geworden. Galten die Kölner zu Lado-Zeiten noch als musikalische Herausforderung, scheinen sie in der Gegenwart zwar nicht altersmilde, zumindest aber sehr nachvollziehbar und fast tanzbar geworden zu sein. Natürlich noch meilenweit weg vom Mainstream haben sie nun anscheinend einen roten Faden gefunden, der sich irgendwo zwischen den Stilen Krautrock und Psychedelic bewegt, die von clubähnlichen Beats unterlegt wurden. Bisweilen kamen mir sogar Bands wie ZOOT WOMAN in den Sinn. Nur die Pausen zwischen den Songs fielen leider etwas zu lang aus und nahmen dem Gesamtauftritt ein wenig die Dynamik. Trotz allem eine große Überraschung, denn müde sind VON SPAR anscheinend noch lange nicht.
Wir aber schon, und schließlich sollten noch zwei Tage folgen. Morgen geht’s weiter!
Der Freitag startete im Cinema auf dem Festival Village, das aus einem Container mit gemütlichen Sofas bestand und zu diesem Zeitpunkt nur mäßig besucht war. Gezeigt wurde „State of the union“, ein Episodenfilm von Nick Hornby, der die Beziehungsprobleme von Mittvierzigern thematisierte. Nick Hornby hat nicht nur den besten Fußballfilm der Filmgeschichte geschrieben, sondern auch so charmante Werke wie High Fidelity und Juliet, Naked. Filme von Nick Hornby erleichtern definitiv das Altern und zeigen einem auf, dass es absolut legitim ist, eine auf Außenstehende zum Teil autistisch wirkende Begeisterung für Musik zu hegen.
Musikalisch starteten wir mit BOOTY EP – softer Yacht-Rock aus Kanada, der den Einstieg in den Tag erleichterte. Dabei half der mehr als akzeptable Filterkaffee, den uns die Barkeeper aus dem Kukuun für einen Euro anboten, da die Siebträgermaschine bereits ausgeschaltet war. Im Anschluss an BOOTY EP profitierten ASTRAL SWANS aus Calgary von einer falschen Programmankündigung – zur selben Zeit wie sie hätten laut Spielplan nämlich auch THE ELWINS auftreten sollen, die tatsächlich aber erst gegen Mitternacht dran waren. So war das Kukuun bereits am frühen Nachmittag gut gefüllt.
Ins Molotow kamen wir anschließend nur, da wir den Türsteher kannten, und so erhaschten wir einen kurzen Blick bei ALI BARTER, die wie eine weibliche Version von NIRVANA klangen und bei DOBBY aus Australien, der zwar noch sehr, sehr jung war, aber so oldschoolig rappte, als würde er gerade erst die BEASTIE BOYS erfinden.
Bei MIN T auf der Spielbude kam uns automatisch der gestrige Auftritt von DANAI NIELSEN in den Sinn – nicht weniger futuristisch agierte die polnische Produzentin, fügte dem Ganzen noch ein paar düstere EBM-Klänge und eine soulige Stimme hinzu. Ungewöhnlich, eigenständig, in der Summe aber doch zu poplastig.
Ebenfalls sehr eigenständig im Songwriting ging es bei LINDA VOGEL aus der Schweiz weiter. Harfe, Schlagzeug und Gesang sind schon eine seltene Instrumentierung, wenn man die Harfe dann allerdings auch noch loopt, die Basssaiten elektronisch anspielen lässt, und zudem Songs schreibt, sie stilistisch in Richtung RADIOHEAD gehen, muss man vor der Ideenvielfalt bereits den Hut ziehen. Würde auch gut in die „Blind Date“-Serie im Kleinen Saal der Elbphilharmonie passen.
Im Anschluss daran war uns nach einem Sitzkonzert, und so passte es gut, dass als nächstes PENGUIN CAFÉ im Michel spielten. PENGUIN CAFÉ ist quasi das Nachfolge-Projekt von Simon Jeffes‘ PENGUIN CAFÉ ORCHESTRA, das es von 1972 bis 1997 gab und das es mit seiner besonderen Mischung aus Minimal Music, Folk und Filmmusik bis ins Vorprogramm von KRAFTWERK und in unzählige Werbespots schaffte. Nach Jeffes‘ Tod durch einen Hirntumor setzte sein Sohn Arthur das Projekt unter dem Namen PENGUIN CAFÉ fort. Die stilistische Ausrichtung ist ähnlich geblieben, und der Sound im Michel war dafür fantastisch. Der E-Bass füllte den Raum mit einem warmen Klang, über dem glasklar die Streicher und das Piano lagen, während die Percussions nur dezent im Hintergrund den Takt vorgaben. Ob die Elbphilharmonie diesen Sound im Februar toppen wird, wird sich zeigen. Die Messlatte liegt jedenfalls ausgesprochen hoch.
Es folgte eine Wende um 180 Grad: aus Sitzplatz wurde Stehplatz, aus Platz wurde Enge, auf leise Klänge folgte Krach. Nach dem Michel fanden wir uns im Headcrash wieder, um BRUTUS live zu sehen. Den Belgiern gelang ein schönes Wechselspiel aus lautem Post-Metal und sphärischen Shoegaze-Klängen. Beachtenswert ist dabei, dass BRUTUS nur zu dritt agieren und ihre Schlagzeugerin dabei abwechselnd singt, schreit und auch noch fantastisch aussieht. Es tat mir fast ein wenig leid, dass nahezu alle Augen und Kameras auf sie gerichtet waren, denn die mal melodischen, mal punkigen Gitarrenlinien und der knarzige Bass standen dem in nichts nach.
Zum Abschluss des Freitags fanden wir uns erneut im Kukuun wieder. Dort begann der Tag, dort endete er auch, und nun spielten die ELWINS auch tatsächlich. Melodien am laufenden Band, mehrstimmiger Gesang in Perfektion. Mal der Bassist an der Gitarre, dann wieder am Bass und am Mikro. Wer danach im Molotow noch tanzen wollte, konnte sich hier schon mal einstimmen. Und wir verabschieden uns an dieser Stelle und sagen: bis morgen!
Den letzten Tag des Reeperbahn-Festivals starteten wir mit einem Besuch der diesjährigen Flatstock Poster Convention. Das beste Poster, für meinen Geschmack, war das Gigposter zum Konzert von SEBADOH von Senor Burns, der gleichzeitig die Gentrifizierung des Kiezes auf eine dezente Art thematisierte.
Direkt neben dem Flatstock erhaschten wir noch ein paar Töne von SPARKLING, die in der Vergangenheit vornehmlich auf britisch texteten, auf ihrem ersten Longplayer aber auch deutsch- und französischsprachige Songs eingebaut haben. Genauso kunterbunt wie in den Texten geht es auch musikalisch zu, und so fühlte ich mich in einem Moment an BONAPARTE erinnert, im nächsten Song schon an PTTRNS oder SLEAFORD MODS. Eintönigkeit geht sicher anders, was man auch am Einlassstopp an der Spielbude merkte.
Auf dem Festival Village sorgten VELVET VOLUME mit ihrem Mix aus Retro- und Garage Rock für einen musikalischen Schritt in die Vergangenheit. Mir kamen dabei die BABES IN TOYLAND in den Sinn, meiner Begleitung die BANDITS aus dem gleichnamigen Film
Das ENSEMBLE RESONANZ durfte im Anschluss im Resonanzraum quasi ein Heimspiel austragen, bei dem es einen Einblick in sein bald erscheinendes Album gewährte, das wiederum auf der Zusammenarbeit mit BRYCE DESSNER im Rahmen seiner Residenz in der Elbphilharmonie vor zwei Jahren basiert. Mit dem zeitgenössischen Opener „Tenebre“ konnte nicht jeder Zuhörer etwas anfangen, aber das anschließende „Aheym“ entfaltete auch in Quartett-Besetzung mit seinem präzisen Timing und den eindringlichen Steigerungen seine volle Wirkung und sorgte für anhaltende Ovationen. Ich bin gespannt auf die Rezensionen, die das Ensemble nach dem Releasedate dafür erhalten wird.
Wenn man schon mal im Feldbunker ist, bleibt man auch gleich dort, auch wenn der Auftritt von STARS noch etwas auf sich warten ließ. So sahen wir im Uebel & Gefährlich noch die letzten zwei Songs von LOW ISLAND, und das Programmheft zum Reeperbahn-Festival dürfte tatsächlich nicht ganz falsch liegen, wenn es „der vielversprechendsten Band Oxfords, die kaum jemand kennt“ eine steile Karriere voraussagt. Gekonnt wurde zwischen den verschiedensten Stilen gewechselt – egal, ob Indie, House oder Pop, die Jungs schienen alles zu beherrschen. Und für einen No Name war hier auch tatsächlich schon verdammt viel los.
Bei STARS war erwartungsgemäß nicht weniger los, zählt die Superband aus Montreal doch schließlich zu den Zugpferden von Arts & Crafts bzw. City Slang. Nebenbei noch in Bands wie BROKEN SOCIAL SCENE aktiv, zählen sie zu den wegweisenden Indiepop-Bands Kanadas. Doch leider wurde ihr melodischer Indiepop im Uebel & Gefährlich viel zu laut und basslastig abgemischt, so dass der Sound nach riesiger Konzerthalle klang und kaum noch etwas mit der ursprünglichen Musik von STARS zu tun hatte. Ein großes Ärgernis, das viele Zuschauer eher gehen ließ.
Stattdessen sahen wir uns ein Konzert in einer sehr kleinen Location anzusehen: BOTSCHAFT spielten in der Hanseplatte – kleine Band aus Hamburg im kleinen Plattenladen. Das passt, auch musikalisch. Denn bei BOTSCHAFT handelt es sich um eine Hamburger/Berliner Allstar-Band mit u.a. Musikern von SABOTEUR, ROBOCOP KRAUS und PALE und mit Malte Thran mit einem Professor für Sozial- und Kulturpolitik am Gesang. Doch allzu verklausuliert klingen die Texte von BOTSCHAFT nicht, stattdessen aber ungewöhnlich offen, ja fast intim. Hinzu kommen fein arrangierte Popmelodien, die sehr gut ins Ohr gehen, und die selbstkritischen und zweifelnden Texte gut untermalen. Nicht zu Unrecht wurde ihr Debüt „Musik verändert nichts“ von den hiesigen Feuilletons bereits sehr wohlwollend rezensiert.
Zum Abschluss des diesjährigen Reeperbahn-Festivals mussten wir schleunigst rüber in die Elbphilharmonie, um der langersehnten Reunion von EFTERKLANG beizuwohnen. Doch es gab nicht nur eine Wiedervereinigung der Band, um mit den alten Hits noch ein paar Taler einzustreichen. Einen Tag vor ihrem Auftritt ist ihr neues Album „Altid sammen“ auf 4AD erschienen, das erstmals nur dänischsprachige Songs enthält. Tatsächlich bestand ihr offizielles Set ausschließlich aus den dort vertretenen neun Songs. Musikalisch wurde die Urbesetzung von EFTERKLANG (das Trio Clausen, Stolberg und Brauer) von sechs weiteren Musikern an Piano, Harfe, Streichern, Saiteninstrumenten, Bläsern und Schlagzeug unterstützt, die für einen toll arrangierten orchestralen Sound in der Elbphilharmonie sorgten, den Casper Clausen sehr intim wirken ließ, als er Mitarbeiter der Elbphilharmonie als Chor auf die Bühne holte und zusätzlich durch den Saal lief und Zuschauer zum Mitsingen animierte. In der ersten Zugabe gab es mit Stücken wie „Alike“, „Modern drift“ und „The ghost“ dann übrigens doch noch die alten Hits und als Zugabe zur Zugabe mit „Lyset“ noch einen unveröffentlichten Song, der bereits die Vorfreude auf weitere neue Stücke steigen ließ. EFTERKLANG – schön, dass Ihr wieder da seid!
Und mit diesen Worten verabschieden wir uns vom diesjährigen Reeperbahn-Festival und freuen uns bereits aufs nächste Jahr.