In diesem Jahr hielt sich unsere sonst übliche Vorfreude aufs Elbjazz ein wenig in Grenzen. Bei den Bands waren wenige große Namen dabei, und die bekannteren Acts (MEUTE, MICHAEL WOLLNY) hatten wir zum Teil bereits mehrfach gesehen. Hinzu kam aber auch, dass gute Freunde von außerhalb, die uns bisher regelmäßig zum Elbjazz besucht hatten, wegen schulischer Verpflichtungen der Tochter in der Schweiz blieben.
Dafür begleiteten uns aber ein paar andere Freunde, die teilweise zum ersten Mal beim Elbjazz dabei waren, und spätestens in dem Moment, als sich das spitzenmäßige Wetter für das Wochenende an der Elbe abzeichnete, war alle Wehmut bereits verflogen. Wobei der Start in der Elbphilharmonie fast ein wenig holprig verlaufen wäre: für unser Pressebändchen mussten wir zunächst rüber auf das Werftgelände von Blohm + Voss auf der anderen Seite der Elbe. Die kurzzeitige Freude, dass das Shuttle-Schiff noch am Anleger lag und keine Menschenschlange davor zu sehen war, schlug schließlich in Skepsis um, als wir uns nach 20 Minuten immer noch nicht fortbewegt hatten. „Das Schiff ist noch zu leer – das lohnt nicht!“ Am Ende reichte die Zeit mit ein paar Sprints zu Fuß aber doch noch aus, so dass wir exakt zum Start von HANIA RANI unseren Sitzplatz im großen Saal der Elbphilharmonie erhaschen konnte. Der Einstieg ins Set der jungen Polin fiel recht elektronisch aus, was über die Boxen in der Elbphilharmonie einen imposanten Sound lieferte. Anschließend wechselte sie wahlweise von den Synthies ans Klavier oder den großen Steinway-Flügel und somit auch die Stilistik mehr ins Atmosphärische. Das sah man auch an den meist geschlossenen Augen ihres doch recht jungen Publikums. Insbesondere wenn HANIA RANI zusätzlich noch ihre hohe schöne Stimme einsetzte, erfolgte das gedankliche Abdriften fast automatisch. Mögen viele Kritiker dem Genre der Neoklassik ja eine gewisse Belanglosigkeit vorwerfen – der positive Effekt war an diesem Abend deutlich vernehmbar. Nicht erst am Ende ihres Sets, als das Publikum zum Teil mit Standing Ovations für den verträumten Einstieg ins diesjährige Elbjazz dankte.
Bevor wir uns erneut auf den Weg über die Elbe machten, gönnten wir uns direkt nebenan im Kinfelts eine Flasche feinen Schaumweins. Man kann über das Kinfelts weder beim Essen noch bei der formidablen Weinauswahl etwas kritisieren – wenn man am Ende bloß nicht immer um ein paar Scheine ärmer wäre.
Bei Blohm + Voss ging es für uns mit DOMI & JD BECK weiter. Das Duo, das von der Süddeutsche Zeitung in die Sparte „nervöser Sci-Fi-Comic-HipHop-Fusion-Groove“ einsortiert wurde, wusste erstaunlich viele Zuschauer vor die Helgen-Bühne zu locken. Ob daran die schräge Manga-Optik der beiden beteiligt war oder ob es an der Zusammenarbeit mit so namhaften Künstlern wie THUNDERCAT, HERBIE HANCOCK, SNOOP DOGG und ANDERSON PAAK lag – für ein gerade erst veröffentlichtes Debüt schlugen die Wellen bereits recht hoch. Ihr hyperaktiver Rhodes-Future-Jazz zeigte aber auf, dass die beiden es auch technisch mit so ziemlich jedem renommierten Jazzmusiker aufnehmen können. Bunt, virtuos und irgendwie spleenig – was soll da erst noch in der Zukunft passieren?
Etwas gediegener ging es anschließend auf der Hauptbühne mit DOPE LEMON weiter. Musikalisch und optisch hätten sie auch gut einem Tarantino-Film entnommen sein können, als Eckpfeiler kann man hier die Genres Americana, Psychedelic und Indiepop ausmachen. Dass das Ganze mit Jazz rein gar nichts am Hut hatte, schien den Anwesenden egal. Vielleicht erfüllen solche Bands auch den Zweck, zwischenzeitlich mal etwas Anderes als Jazz zu hören. Kopf der Band ist übrigens kein Geringerer als ANGUS STONE, der seit Anfang der Zweitausender nicht minder erfolgreich mit seiner Schwester JULIA als Folkpop-Duo die Konzertbühnen und Charts weltweit stürmte. Bei DOPE LEMON kann man die folkigen Wurzeln zwar nach wie vor erkennen, jedoch erinnerten sie uns auf dem Elbjazz mehr an Künstler wie BALTHAZAR und L’AUPAIRE.
Wenn man vom Programm nicht so festgelegt ist wie wir in den Jahren zuvor, hat dies durchaus auch Vorteile. So ließen wir uns anschließend ein wenig treiben, testeten hier und dort die kulinarischen Köstlichkeiten (tatsächlich ist das Essensangebot auf dem Elbjazz recht vielfältig, fast überall schmeckt es ziemlich gut, private Empfehlungen gibt es für nahezu jeden Stand) und schauten anschließend bei der neuen kleinen Jazztruck-Bühne vorbei, wo SKILBECK mit ihrer Mischung aus Bigband, Jazz und Elektro musikalisch bereits auf MEUTE einstimmten. Danach erhaschten wir noch einen kurzen Blick beim MICHAEL WOLLNY TRIO, bevor wir in der Schiffbauhalle bei CAMILLA GEORGE landeten und verblieben – auch um uns mittlerweile ein wenig aufzuwärmen, da sich der aufkommende Wind nicht gerade als kompatibel mit unserem sommerlichen Outfit zeigte. Die Saxophonistin CAMILLA GEORGE stammt aus Nigeria, studierte in London Jazz und lebt dort nach wie vor. Mit ihrer modernen, groovebetonten und zugleich relaxten Mischung aus Jazz, Soul und Afrobeats hatte sie die Zuschauer sofort auf ihrer Seite, beeindruckte außerdem durch ihr politisches Engagement für die afrikanische Geschichte, das sie zwischen den Songs thematisierte. Eine Künstlerin, die viel zu sagen hat und von der man sicherlich auch noch viel hören wird.
Zum Abschluss des ersten Tages schauten wir vor der Hauptbühne bei MEUTE vorbei, die heute natürlich ein Heimspiel hatten. Mit ihrer Idee, Marschmusik mit Techno und Deep House zu verbinden, sorgten sie vor acht Jahren allerorts für offene Münder. Der Überraschungseffekt ist bei vielen Zuschauern inzwischen zwar weg, dass ihre Transformation von elektronischer Musik auf das Instrumentarium einer Blaskapelle aber so perfekt funktioniert, beeindruckt auch heute noch. Nicht nur in ihrer Heimat an der Elbe, sondern weltweit, wie ihre Touren durch Europa, Amerika und Afrika inzwischen belegen.
Für den zweiten Tag hatten wir dazugelernt und im Rucksack auch langärmlige Sachen verstaut – die wir am Ende doch nicht brauchten. Die Temperaturen kletterten tagsüber noch höher als am Freitag und kratzten beinahe an der 30°C-Marke. Dafür hatte die Feuerwehr auf dem Gelände zahlreiche Wasserstellen eingerichtet und Rasensprenger zur Abkühlung aufgestellt, die ausgiebig vom Publikum genutzt wurden.
Für die passende musikalische Untermalung sorgte die französisch-karibische Sängerin und Bassistin ADI OASIS, die zuvor unter den Namen ADELINE bzw. ESCORT mal solo und mal mit Band im Nu-Disco-Bereich unterwegs war. Unter dem Namen ADI OASIS hörte man die Wurzeln zwar noch heraus, genauso konnte man in ihrer Musik aber auch Einflüsse aus den Genres Funk, Jazz und Soul wiederfinden. Der perfekte Soundtrack für die tropischen Temperaturen und dazu eine Frontfrau, die trotz ihres unübersehbaren Babybauches in der prallen Sonne eine unglaubliche Spielfreude und Leichtigkeit auf der Bühne ausstrahlte. Hut ab!
Nicht weniger Spielfreude begegnete einem im Anschluss auf der Hauptbühne in Person von OMAR SOSA. Die stilistische Bandbreite des kubanischen Pianisten ist unglaublich, und wahrscheinlich genau deshalb ging die Kombination mit der NDR Big Band so perfekt auf. Der Mann, der über sich selbst behauptet, kein Jazz-Pianist zu sein, ist in so vielen Genres zu Hause, dass die Festlegung auf eine einzelne Sparte an eine Beleidigung grenzt. Zwar ist die Zusammenarbeit mit der NDR Big Band nicht neu, genaugenommen trifft man seit mittlerweile 13 Jahren immer mal wieder aufeinander, und doch kommt jedes Mal wieder etwas Neues dabei heraus. An diesem frühen Abend durfte nahezu ein jeder Solist der Big Band mal nach vorne treten, während Sosa zwischen Flügel und Rhodes hin- und herwechselte.
Weitere Stilvielfalt gab es auf der anderen Open Air-Bühne mit DERYA YILDIRIM & GRUP ŞIMŞEK, die anatolische Folklore nach Hamburg transportierten. Wobei diese Umschreibung genaugenommen etwas unpräzise ist, schließlich hatte DERYA YILDIRIM die kürzeste Anreise aller Künstler/Innen, wie sie das Publikum wissen ließ: von der Veddel rüber bis nach Steinwerder sind es per Luftlinie ziemlich genau fünf Kilometer. Insofern überrascht es auch nicht, dass die passionierte Saz-Spielerin ihr Publikum gleich mitgebracht hatte. Doch in ihrer Musik steckt noch viel mehr als nur türkische Folklore – entsprechend der multinationalen Herkunft ihrer Bandmitglieder, findet man ebenso unterschiedliche Stile in ihrer Musik wieder, angefangen beim Psychedelic,bis hin zum Modern Pop, Jazz, Prog und sogar etwas 70s Feeling à la DOORS. Da wundert es nicht, dass DERYA YILDIRIM zusammen mit der GRUP ŞIMŞEK auf den diversesten Festivals wiederzufinden ist.
Psychedelisch ging es im Anschluss daran ebenfalls auf der Hauptbühne mit dem UNKNOWN MORTAL ORCHESTRA weiter. Wer dahinter aber ein 20köpfiges Ensemble vermuten sollte, liegt ziemlich falsch. Hinter dem Pseudonym steckt insbesondere der in Neuseeland geborene Multiinstrumentalist Ruban Nielson, der auf der Bühne am Mikro und Gitarre zu finden ist. Was recht weird und sperrig anfing, entwickelte sich im Laufe ihres einstündigen Sets immer mehr in Richtung Disco mit unverkennbarem 70s-California-Summer-Feeling, bis am Ende fast alle mittanzten.
Zum Abschluss des diesjährigen Elbjazz sahen wir schließlich unsere persönliche Neuentdeckung des gesamten Festivals: NORLYZ aus Berlin. Ähnlich wie auch MEUTE und SKILBECK traten sie den Beweis an, dass analoge Instrumente nicht mehr im Widerspruch zu tanzbaren, elektronisch erzeugten Sounds stehen müssen. Bei NORLYZ treffen hier diverse Bläser, Handpan (und normalerweise auch ein Cello, das aber krankheitsbedingt ausfiel) auf von Synthies und Ableton erzeugte Beats und Soundflächen. Die vor dem kleinen Jazztruck aufgebauten Bierzeltbänke wurden bald von den Zuschauern ignoriert, die es auf die Tanzfläche zog. Am Ende muss man sagen, dass die Bühne gut und gerne ein paar Nummern größer hätte ausfallen dürfen – ebenso die Boxen, die die Bässe nur unzureichend nach draußen transportieren konnten. So dürfen aber alle Anwesenden in ein paar Jahren erzählen, dass sie damals beim Elbjazz dabei waren, als NORLYZ noch auf einer ganz kleinen Bühne auftraten, die sie innerhalb kürzester Zeit zu einem großen Dancefloor umfunktioniert hatten.
So bleibt am Ende unser Fazit, dass das Elbjazz immer wieder ein schönes Erlebnis ist – unabhängig davon, welche Freunde einen begleiten und wie bekannt die auftretenden Bands auch sein mögen. Zu entdecken gibt es hier immer wieder was!