Alles neu macht der Mai. Zum Beispiel auch, dass das Elbjazz 2017 nach einem Jahr Zwangspause nicht mehr am letzten Mai-Wochenende stattfand, sondern Anfang Juni. Aber das war sicherlich eine der unbedeutendsten Veränderungen. Spannender waren die Fragen: Was ändert sich musikalisch, was ändert sich konzeptuell? Wird es nur noch drei große Hauptbühnen bei Blohm + Voss geben, wie das Hamburger Abendblatt Ende 2015 spekulierte? Damit einhergehend würden die musikalischen Geheimtipps auf den kleineren Bühnen sicherlich zu den Akten gelegt werden können.
Fest stand jedenfalls: die hohen Verluste in den vorangegangenen Jahren machten eine Neuausrichtung dringend nötig. So trennte man sich von der Initiatorin und bisherigen Geschäftsführerin Tina Heine, und Konzertveranstalter Karsten Jahnke übernahm den Posten selbst. Außerdem galt es, mehr Zuschauer zu locken als bisher. Um die Kosten zu decken, wurden 8.000 bis 10.000 Besucher pro Tag veranschlagt. Ein ambitioniertes Ziel.
Einen kleinen Lichtblick gab es jedoch vorab. Zwar wurde der charmante Museumshafen aus dem Plan gestrichen und auch der Stückgutfrachter, die MS Stubnitz, gehörte nicht mehr zu den bespielten Bühnen, dafür rückte aber das Thalia Zelt am Baakenhöft nach. Und natürlich ließ man es sich nicht nehmen, die Elbphilharmonie in den Spielplan mit aufzunehmen. Da es auch in der zweiten Spielzeit nicht einfacher geworden ist, an Karten zu gelangen, durfte das von der Tourismusbranche als neues Wahrzeichen der Stadt ausgerufene Konzerthaus natürlich nicht fehlen. Jedoch sind die dortigen Kapazitäten limitiert, und um die 2.000 Plätze möglichst gerecht aufzuteilen, entschloss man sich dazu, dass pro Besucher nur eines der dort stattfindenden sechs Konzerte nach Voranmeldung besucht werden konnte und zwar nach dem Prinzip: first come, first go. So wurde die Anzahl der Bühnen letztendlich nur von zehn auf neun Spielorte reduziert, doch damit konnte man leben, und vom Rest ließ man sich überraschen.
Erste gute Nachricht zum Festivalbeginn: das Wetter stimmte! Das ist gerade für Hamburger Verhältnisse ja nicht selbstverständlich und hat dem Elbjazz in den Vorjahren schon den einen oder anderen Strich durch die Abschlussrechnung gemacht. Also holten wir uns vor der Elbphilharmonie die Programmhefte ab, erkundigten uns nach den neuen Abfahrtsorten der Barkassen- und Bus-Shuttle und erhielten den mündlichen Ratschlag, auf den Fußweg durch den Alten Elbtunnel auszuweichen, da es vor allem bei den Bootsfahrten doch erhebliche Wartezeiten gäbe. Da die Fahrt über die Elbe jedoch der schönere und entspannte Weg ist, entschlossen wir uns dazu, trotzdem an den Barkassen vorbeizuschauen und siehe da… es gab gar keine Schlange. Offensichtlich folgten alle Zuschauer dem gutgemeinten Tipp am Infopoint, der zur Folge hatte, dass der Kapitän nun ziemlich wenig zu tun hatte und den Passagieren anbot, eine kleine Extrarunde durch den Hafen zu drehen, als sein Bötchen endlich voll war. So machte er noch einen kleinen Törn an der Elbphilharmonie vorbei („verantwortlich dafür ist der damalige Bürgermeister Ole von Beust – man nannte ihn auch ‚der Ole ohne Kohle‘“), verdiente sich ein kleines Zubrot durch den Verkauf von Astra-Knollen (4€/Flasche!) und setze uns schlussendlich am Werftgelände ab.
(jg) Wir starteten mit BEADY BELLE und BUGGE WESSELTOFT. Konnte man Wesseltoft noch vor sechs Jahren auf dem Überjazz mit seinem Jazz-Elektro-Duo WESSELTOFT & SCHWARZ sehen, kollaborierte der norwegische Pianist nun mit seinen Landsleuten von BEADY BELLE, die zwar auch im elektronischen Jazz zu Hause sind, zuletzt aber mit minimalistischen Soul und Funk überraschten, bei dem der warme Gesang von Beate Lech klar im Vordergrund stand. Leider gilt das auch für die Zusammenarbeit mit BUGGE WESSELTOFT, der mit seinem Klavierspiel nicht aus der Rolle der musikalischen Begleitung heraustreten konnte. Mit ihren balladesken Songs und Lechs tiefer Stimme trotzdem ein passender Einstieg in ein sonniges Elbjazz-Wochenende.
(db) Mit Blick auf unseren Zeitplan versuchten wir, den Besucherströmen entgegen, schon mal in die Schiffbauhalle 3 zu gelangen, in der NDR Info seine Bühne aufgebaut hatte, schauten dort beim Merchandising vorbei und fanden einen Platz in der Lounge am hinteren Ende des Zuschauerbereiches, direkt neben dem «Mann mit dem Grammophon». Mit seiner Schellackplattensammlung von etwa 10.000 Originalaufnahmen, stilecht auf einem Grammophon dargeboten, das er in den Neunzigern selber wieder instand gesetzt hat, schuf Thomas Melchior in der «Grammophon»-Lounge ein Paradies für den Jazz-Nostalgiker. Hier konnten wir, behaglich ins Sofa gekuschelt, «Knisterjazz» und klassischem Swing vom Feinsten lauschen; alte Jazzgrössen wie ELLA FITZGERALD, BILLIE HOLIDAY und DUKE ELLINGTON fanden ihren Weg auf den Grammophonteller – ein klanglich interessanter und wohltuender Ausflug in die Anfangszeiten des Jazz und die Blütezeit des Swing. Thomas Melchior versammelte denn auch stets ein von der alten und ästhetischen Technik begeistertes Publikum um sich herum, dem er bereitwillig Rede und Antwort stand. Für eine Zuhörerin, die seinen Grammophontisch in der prall gefüllten Halle später mit einem Sitzplatz verwechselte, fand der freundliche Grammophonist dann aber auch deutliche Worte…
(jg) Ähnlich antik ging es auf der NDR Info Radio Stage mit BEN L’ONCLE SOUL weiter. Wenngleich der Franzose selbst erst Anfang dreißig ist, hat er sich voll und ganz dem Motown der Fünfziger und Sechziger Jahre verschrieben. Dass man damit auch in der Gegenwart Erfolg haben kann, stellte er mehrmals unter Beweis. Entdeckt wurde er von seinem Label durch seine Internetauftritte, der Durchbruch gelang ihm schließlich mit einem Werbesong für Duplo und eine Coverversion von WHITE STRIPES‘ „Seven nation army“ – im entspannten Retro-Sound. Live stellen sich seine Songs genauso leicht und luftig dar und wurden vom Publikum wohlwollend aufgenommen.
(db) Wer bisher den Elbjazzbericht aufmerksam verfolgt hat, wird festgestellt haben, dass der «Jazz» im engeren Sinne in diesem Jahr etwas unterrepräsentiert blieb. Dass die Avantgarde der internationalen Jazzszene nicht gerade Besucherströme der angepeilten Größe anzieht, ist natürlich klar. Ein Jazzfestival dieser Grösse, das noch dazu zur Sanierung des überstrapazierten Budgets dienen soll, muss wohl die experimentelle Spartenkunst ausblenden und – leider – vor allem musikalische Eingängigkeit bieten. Dass das in diesem Jahr dazu geführt hat, die Dänin AGNES OBEL mit ihrer Band einzuladen, stimmt mich dafür wieder versöhnlich, denn sie erschafft ganz besondere, sphärische Songs, die die Dunkelheit skandinavischer Wälder ebenso einzufangen scheinen wie das kühle Licht skandinavischer Sommernächte. AGNES OBEL ist vom Jazz allerdings genaugenommen wohl in etwa so weit entfernt wie vom Mainstreampop. Ihre melodiösen, im Klang schwelgenden folkigen Songs, die sie mit warmer, manchmal feenartig verhauchter Stimme singt, wirken durch ausgefeilte Klavier- und Streicherarrangements, mit denen die Band dichte Klangflächen schafft, eher von der Musik des Impressionismus, etwa von Debussy oder Satie, inspiriert. Die Klavier-und Streicherklänge der Frauenband – übrigens ein seltenes Bild; die Skandinavier sind eben immer noch federführend in der Emanzipation – werden auf der aktuellen Tour zum ersten Mal durch eine Schlagzeugerin ergänzt und damit rhythmischer und klanglich spannender. Das ist mindestens ein guter Grund dafür, AGNES OBEL, deren Songs in ihrer bezaubernden, intensiven Klanggebung eben doch in keine Schublade passen, auf dem Elbjazz eine Bühne zu bieten.
Etwas irritiert, aber – wie mir scheint – positiv überrascht äußert sich dann auch neben mir eine junge Festivalbesucherin: «Und das ist jetzt Jazz? Na, wenn das Jazz ist, dann mag ich den auch!» …
(jg) Da der Weg zur Elbphilharmonie wieder über die Elbe führt, machten wir uns rechtzeitig auf den Weg zum Shuttle-Service, stellten dort jedoch erleichtert fest, dass man aus den vergangenen Jahren dazugelernt hatte. Busse waren in der Regel sofort zu kriegen, auf die nächste Wasserfahrt musste man meistens auch nicht länger als eine Viertelstunde warten. So blieb auf der anderen Seite der Elbe noch genug Zeit für ein Gläschen Sekt und einen Blick von der Plaza, bevor es im Großen Saal weiterging. Leider verteilten sich unsere vier Plätze auf drei verschiedene Bereiche des runden Saals, aber anscheinend war einigen Zuschauern der Weg zur Elbphilharmonie zu weit oder der mitternächtliche Beginn zu spät, so dass wir uns spontan direkt gegenüber der Bühne zusammensetzen konnten. Es folgte eine Neuinterpretation von NIRVANAs Erfolgsalbum „Nevermind“ von CHRISTOPH SPANGENBERG auf dem Klavier. Und das machte Spangenberg mehr als gekonnt. Selbstverständlich stellten seine Coverversionen die Musik NIRVANAS in einem ganz anderen Licht dar und hatten mit dem Original nur noch wenig zu tun. Ob die angejazzten und zum Teil stark verfremdeten Versionen Kurt Cobain gefallen hätten, darf man bezweifeln. Dass Spangenberg bei der Veröffentlichung von NIRVANAs zweitem Album gerade mal fünf Jahre alt war – ebenfalls geschenkt. Mit NIRVANAs „No Future“-Attitüde hatte der Auftritt in der Elbphilharmonie nur wenig gemeinsam, aber ums Gefallen ging es dem Trio aus Seattle ja bekanntlich auch nie.
(jg) Tag 2. Unser Nachmittag startete auf dem Baakenhöft, wo das ROMAN SCHULER EXTENDED TRIO (RSXT) um 17:30 das Thalia Zelt eröffnete. Doch am Baakenhöft stand zu dem Zeitpunkt nicht nur das Zirkuszelt des Thalia Theaters, hier wurde im Zuge des Festivals „Theater der Welt“ gleich eine ganze Parallelwelt geschaffen, die aussah wie ein Spielplatz für Erwachsene und nebenbei selbstgemachtes Essen bei einem Blick auf den Hafen bot – aus Liegestühlen, wohlgemerkt.
Das ROMAN SCHULER EXTENDED TRIO war in der Vorbereitung auf das Elbjazz eines der Projekte, auf die ich am meisten gespannt war, da die verlinkten Video doch eine schöne Gratwanderung zwischen den Stilen Jazz, Elektro und HipHop verhießen. Vor allem merkte man dem jungen Trio zu Beginn seines Konzertes eine gewisse Nervosität an, offenbar hatte man nicht damit gerechnet, dass sich das Zirkuszelt bereits am frühen Nachmittag zu etwa zwei Dritteln füllen würde. Spielerisch lief aber alles glatt, und das Zusammenspiel aus Melodie, Groove und experimentellen Passagen gelang problemlos, wenngleich RSXT live noch nicht so locker wirkten, wie ihre Musik auf Tonträger rüberkommt. Und für meinen Geschmack wechselte Roman Schuler zu häufig seinen Sound zwischen Moog, Synthie und E-Piano hin und her, was etwas zu viel Unruhe in die Songs brachte. Trotzdem möchte ich dem Trio seine erfrischende Interpretation von zeitgenössischen Jazz nicht zerreden, vielleicht braucht es einfach noch ein bisschen Zeit, bis es auch live vollends überzeugen kann. Der Ansatz stimmt auf jeden Fall schon mal.
(db) Nachdem wir schließlich einen der zu diesem Zeitpunkt bereits ziemlich überfüllten Shuttlebusse zum Blohm + Voss-Gelände erwischt hatten, stellte sich das Unterfangen, den Trompeter NILS WÜLKER in der Maschinenbauhalle zu hören, als aussichtslos – im wahrsten Sinne des Wortes – heraus. Wir schafften es noch nicht einmal, bis zur draußen aufgestellten Videoleinwand vorzudringen und gaben schließlich trotz des Pressepasses entnervt auf. Wie uns ist es wohl vielen Besuchern ergangen. Das Elbjazz als Publikumsmagnet, noch dazu bei phantastischem Wetter, bedeutet eben auch Gedrängel und überfüllte Konzerte, insbesondere was die Main Acts von der Bekanntheit eines NILS WÜLKERs anging. Wir nutzten die Gunst der Stunde dann einfach fürs Essen – auch hier galt es, Stoßzeiten zu umgehen.
(jg) Da wir MYLES SANKO am Nachmittag verpasst hatten, weil wir uns noch am Baakenhöft im Thalia Zelt befanden, nutzten wir die zweite Option und sahen uns seinen Auftritt am frühen Abend auf der NDR Info Radio Stage an. Konnte mich das kürzlich erschienene zweite Album des Briten noch nicht restlos überzeugen, sah die Sache live doch ganz anders aus. Auch wenn man unberücksichtigt lässt, dass die Stimmung in der Schiffbauhalle 3 eigentlich bei fast allen Auftritten mindestens gut, oft sogar frenetisch war, sorgte MYLES SANKO mit seiner warmen, sonoren Stimme ohne Mühe für ein wohliges Gefühl in der Magengegend. Dass bei amazon der Hinweis „Kunden kauften auch: GREGORY PORTER“ erscheint, ist dabei kein Zufall. Irgendwo zwischen Soul, Jazz und R&B klingt MYLES SANKO tatsächlich wie der kleine Bruder von GREGORY PORTER. Den Vergleich dazu konnte man ja bereits eine Stunde später auf der Hauptbühne ziehen.
(db) Einen kleinen Abstecher machten wir vorher noch zur Bühne am Helgen, wo man sich wiederum die Frage stellen durfte: Ist das Jazz? AKUA NARU war vor allen Dingen eines: laut. Die aus Amerika stammende Sängerin, die mittlerweile in Köln lebt und einen afrikanischen Künstlernamen angenommen hat, betreibt sogenannten «Conscious Rap», dessen Texte sich mit politisch und gesellschaftlich relevanten Themen beschäftigen. AKUA NARU selbst setzt sich vor allem mit der Geschichte und gegenwärtigen Situation der Afroamerikaner in den USA auseinander, und ihre Songs sollen laut Programmtext «alle Genres afroamerikanischer Musik umspannen», also Blues, Jazz und HipHop. Las sich alles sehr ambitioniert und spannend, klang leider – vielleicht auch aufgrund der Bühnentechnik – sehr übersteuert, unstrukturiert und anstrengend und jazzmäßig eher enttäuschend. Wir machten uns dann lieber zeitnah auf, um noch einen einigermaßen guten Platz mit Sicht auf GREGORY PORTER an der Hauptbühne zu ergattern.
(jg) Bereits zum zweiten Mal auf dem Elbjazz zog der Grammy- und Echo-Preis-Abräumer wieder die meisten Zuschauer, doch vor der Blohm + Voss-Hauptbühne war zum Glück genügend Platz für alle. So sorgte der Kalifornier mit seinem tiefen Barriton für einen gelungenen Abschluss und rundum zufriedene Gesichter. Geht die Stimme des Ballonmützenträgers bereits auf Platte unter die Haut, ist seine Präsenz live noch um einiges beeindruckender. Das einzige Ärgernis bei seinem Auftritt war der Tonmischer, der den Gesang und die Soloinstrumente so weit nach vorne rückte, dass man die übrigen Instrumente nur noch erahnen konnte. Dies ist umso enttäuschender, da es sich bei seiner Backing Band um keine unbedeutenden Begleitmusiker handelte, sondern an den Streichinstrumenten sogar das KAISER QUARTETT saß, das zuvor u.a. mit CHILLY GONZALES unterwegs war. Doch die Musiker konnten nichts dafür, und so bleibt insgesamt ein sonniges Festivalwochenende in Erinnerung, bei dem die eigentliche Sparte „Jazz“ etwas zu kurz kam, der Samstag zum Teil an seine Kapazitätsgrenzen stieß, man sich aber am Ende doch sehr freute, dass das Elbjazz wieder nach Hamburg zurückgekehrt ist.