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THE HIDDEN CAMERAS – Mit Joel Gibb auf der Suche nach der Herkunft seiner Stücke

Was THE HIDDEN CAMERAS auf der Bühne bieten, ist vergleichbar mit einem großen Varieté, vermischt mit Erlebnispark und Traumwelt. Eine ungezählte Menge von Musikern, Tänzern und Chorsängern performt unter der Regie des Gründers und Bandleaders Joel Gibb Stücke von ebenso bizarrer wie eingängiger Extravaganz. Am 30.Oktober erscheint mit "Origin:Orphan" das fünfte Album der HIDDEN CAMERAS. Seine schwere, zum Teil metaphysische Stimmung setzt sich klar ab von seinen Vorgängern, ohne die Verspieltheit zu verlieren, die Joel Gibbs Musik vor allem auszeichnet.
An einem sonnigen Nachmittag trafen wir uns zum Gespräch, und weil es sehr warm war, trank ich Apfelschorle und versuchte, meine Fragen kurz zu fassen. Joel hatte offensichtlich Spaß daran, interviewt zu werden. Er erzählte alles fast von allein und erinnerte mich ganz nebenbei an die uns allen gemeinsame aber unbekannte Urherkunft: den Schleim.

[F] Du bist der Gründer einer mittlerweile ziemlich großen und umfangreichen Band. Wie fing das alles an?
[A] Es fing an in Toronto. 2001 fragten mich Freunde, ob ich in ihrer Galerie spielen wolle. Ich benutzte für den Auftritt den Namen THE HIDDEN CAMERAS, hatte aber noch keine Band. Also fing ich an, Leute zu fragen. Es lief wie nach dem Schneeballprinzip, und es ist ein einzigartiges, bewegtes System entstanden. Die Leute kommen und gehen – und kommen wieder, wir sind eine sehr fließende, freie Band.

[F] Hört sich an, als wären THE HIDDEN CAMERAS eher ein Projekt als eine Band.
[A] Man kann es Band nennen oder Projekt, wie man will.

[F] THE HIDDEN CAMERAS sind eine riesige Gruppe, aber du bist hier ganz allein. Bist du ein Kontrollfreak?
[A] Wie kann man das nicht sein, wenn man ein Songwriter ist. Ich bin keiner von denen, die ein neues Stück anfangen und keine Idee davon haben, wie sie es machen wollen. Wenn ich ein Stück schreibe, höre ich es vorher schon in meinem Kopf. Die Kunst ist, das zu übersetzen in für alle hörbare Musik.

[F] Gibt es feste Mitglieder bei THE HIDDEN CAMERAS?
[A] Eher nicht. Es gibt welche, die spielen seit Jahren mit. Einer zum Beispiel ist gerade in Toronto, um seinen Master zu machen. Das heißt aber nicht, dass er deshalb jetzt nicht mehr in der Band ist. Es ist erlaubt zu fehlen und sein eigenes Leben zu führen. Viele haben auch noch ihre eigene Band, um die sie sich kümmern.

[F] Wie ist deine Beziehung zu den anderen Bandmitgliedern?
[A] Ich kenne nicht alle, die dabei sind. Es wäre auch keine gute Idee zu schätzen, wie viele Leute daran beteiligt sind oder waren. In jeder Stadt gibt es neue Chöre und Gogo-Tänzer. Ich kenne oft nicht einmal ihre Namen. THE HIDDEN CAMERAS sind keine Band im traditionellen Sinn, kein exklusiver Club. Es macht auch einfach Spaß, neue Leute mit reinzuholen. Da ist zum Beispiel ein Trompeter aus Vancouver, der uns angeschrieben hat, weil er mitspielen wollte. Also kam er zum Soundcheck und lernte drei Stücke. Vor unserem nächsten Auftritt in Vancouver schrieb er uns wieder an. Er war bei dem Auftritt dabei und lernte noch einmal drei Stücke. Jetzt ist er in der Band, spielt Trompete, Keyboard und Gitarre und lebt im Haus der HIDDEN CAMERAS.

[F] Ihr habt ein Haus?
[A] Ja, in Toronto. Da leben auch noch eine Cellistin und andere Leute.

[F] "Origin:Orphan", euer neues Album, ist ja im Vergleich zu den vorherigen ziemlich düster geworden. Die Brüche auf dem Album, die du mit ziemlich heiteren, fast albernen 80er-Synthies erreichst, untergraben diese Düsternis aber sehr effektiv. Warum dieser Kontrast zwischen den Stücken?
[A] Eigentlich gibt es dafür keinen Grund. Es war nicht geplant, sie so stark voneinander abzugrenzen. Jedes Stück hat seine Bedeutung, seinen eigenen Entstehungsprozess, das unterscheidet sie voneinander. Ich hoffe, die Tatsache, dass ich in jedem von ihnen singe, verbindet sie miteinander.

[F] Signalisiert das erste Stück, "Ratify the new", auch eine neue Richtung in deiner Entwicklung?
[A] Das Stück bedeutet den Beginn von etwas Neuem. Natürlich bezieht sich das auch auf mich und meine Musik.

[F] Was hat Berlin damit zu tun?
[A] Zum Beispiel habe ich eine neue Sprache gelernt. Eine Stadt wie diese öffnet den Geist. In eine neue Stadt zu kommen und dort zu leben und ihre Kultur kennen zu lernen, bedeutet, Dinge aus einer anderen, neuen Perspektive zu betrachten.

[F] Was ist anders in Berlin?
[A] Es ist völlig anders in Berlin als in Toronto. Kanada ist ein Kolonialstaat. Die Atmosphäre ist zwar sehr multikulturell, aber auch spießig und prüde. In Berlin laufen die Leute rum, wie sie wollen, sie trinken, wo sie wollen, sie liegen nackt im Park… Sie machen einfach, wozu sie Lust haben. Ich glaube, die Geschichte dieser Stadt wirkt sich bis heute auf die Stimmung hier aus. Die Menschen nehmen ihre Freiheit nicht als gegeben hin. Es gibt diese besondere Haltung, die sich gegen die Macht stellt. Das existiert nicht in jeder Stadt. Außerdem gefällt mir, dass die Stadt so arm ist – "arm aber sexy…"

[F] Und kreativ.
[A] Ja, sehr kreativ.

[F] Wie du. Du machst sehr viele unterschiedliche Sachen. Du bist Musiker, schreibst die Texte, designst eure Cover selbst und arbeitest teilweise als Regisseur eurer Musikvideos… Welchen Stellenwert hat da die Musik für dich?
[A] Hm. Musik ist wie atmen für mich. Sie ist nicht so intellektuell wie die visuellen Künste vielleicht. Aber letztlich ist beides eine Art von kreativem Ausdruck. Kreativität ist nicht gebunden. Man kann selbst bestimmen, was man ist. Man selbst sagt: ich bin Musiker. Es ist nicht die Kreativität, die in eine bestimmte Richtung zeigt und vorgibt, was man macht.

[F] Letzte Frage: du sagtest, auf dem neuen Album "Origin:Orphan" ist jeder Song ein Waise. Warum?
[A] Sie haben keine Herkunft.

[F] Aber sie haben ihr Genre.
[A] Ja, stimmt. Sie haben keine Herkunft, weil sie aus dem Urschleim entstanden sind.

[F] [..?]
[A] Für mich repräsentieren sie unterschiedliche Phasen. Manche sind schon ziemlich alt, manche noch sehr neu. Sie haben ihr eigenes Bedeutungssystem und damit eine unbekannte, keine gemeinsame Herkunft.

[F] Aber du hast sie geschaffen.
[A] Ja, aber ich bin nicht für sie da. Ich speie sie in die Welt, und dann sind sie auf sich selbst gestellt.

[F] Ganz schön hart.
[A] Meinst du? Ich weiß nicht. Es macht sie auch stark. Wie alle Waisen auf irgendeine Art.

[F] Bist du auch Waise?
[A] Nein. Aber manchmal fühle ich mich ein bisschen so, wenn ich in fremden Ländern unterwegs bin. Metaphorisch gesehen sind wir alle Waisen – und wir sind alle genauso miteinander verwandt. Wir stammen alle von einem Affen in Kenia.

[F] Aha?
[A] Und der Affe entstand aus dem gleichen Urschleim wie die Waisen aus "Origin:Orphan".

[F] Welch schönes Schlusswort.
[A] Für dich schon vorformuliert.

[F] Vielen Dank!

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