You are currently viewing Alínæ Lumr Festival 2017 (Storkow)

Alínæ Lumr Festival 2017 (Storkow)

Um die Ecke ist in Storkow nichts. Jedenfalls nicht, wenn man auf den üblichen Portalen nach Übernachtungsmöglichkeiten sucht. Airbnb: nüscht, booking.com: Fehlanzeige, HRS: ebenso.
Man hätte natürlich auch vor Ort zelten können, aber ab einem gewissen Alter weiß man die Vorzüge eines richtigen Bettes und einer Nasszelle zu schätzen. Letztes Jahr hatten wir noch ein altbackenes Landgasthaus in 7 km Entfernung gebucht, allerdings musste man sich die Fahrräder im wiederum 10 km entfernten Bad Saarow leihen. Alles etwas kompliziert.
In diesem Jahr hatten wir dazugelernt. Dachten wir zumindest. Meine Begleitung hatte einen Naturcampingplatz ausfindig gemacht, auf dem man in gemütlich aussehenden Holzfässern übernachten konnte. Direkt in Storkow!
Dass sich der besagte Campingplatz tatsächlich 13 km von Mark Storkow entfernt am Ende einer holprigen Landstraße befindet, bemerkten wir erst auf den zweiten Blick. Egal, die Landschaft in der Niederlausitz ist reizvoll, warum nicht mal wieder aufs Rad schwingen und ein bisschen Sport treiben? Fahrradverleih direkt vor Ort. Na, bitte.
Tatsächlich stammten die Räder auf dem Campingplatz wahrscheinlich noch aus VEB-Zeiten, von einzelnen Modellen riet uns die Dame am Empfang sogar explizit ab. Doch auch die besseren Räder hatten dynamobetriebene Lampen und zwischendurch ganz unverhofft Leerlauf. Hinzu kam, dass das GPS auf unseren multimedialen Landkarten nicht selten aussetze und uns googlemaps Sandwege als Radwege verkaufte, die mal im Nirgendwo endeten, mal vor einer Absperrung mit dem dezenten Hinweis „Militärischer Sicherheitsbereich. Betreten verboten! Schieß- und Übungsbetrieb, Blindgänger! Lebensgefahr!“ So dauerte der Hinweg zum Festival zwei, der Rückweg dreieinhalb Stunden. Im nächsten Jahr dann doch lieber zelten.
al2017-wieseDie Fahrt ist das Eine, die Ankunft auf dem Alinae Lumr-Festival das Andere. Im Zentrum von Storkow ist nämlich plötzlich alles ganz nah beisammen. In diesem Jahr kannten wir die Wege vor Ort schon und erkannten auch kleine Veränderungen, wie die Verlegung der Bändchenausgabe um ca. 100 m vom Haus der Begegnung hin zum Eine-Welt-Laden. Die Bühne auf dem Markt ist vergrößert und überdacht worden, zudem kamen ein paar neue Locations dazu, wie der Weidendom im Mitmach-Park Irrlandia.
Wir starteten mit ARMS & SLEEPERS am Mühlenfließ. Das Mühlenfließ ist eine fast ebenerdige Bühne, direkt neben einem Flüsschen. Als Zuschauer setzt man sich auf den Rasen unter einen Apfelbaum oder schaut vom Geländer auf der anderen Seite des Baches zu. ARMS & SLEEPERS stammen aus Boston und Portland, vor 13 Jahren (so lange gibt es die Band tatsächlich schon) hatte ich das Duo erstmals live gesehen. Damals noch zu zweit, sechs Jahre später samt Backing Band, 2017 auf dem Alinae Lumr nur noch als One-Man-Show. Hatte man sich in der Zwischenzeit getrennt? Das Internet verrät, dass die Band zu zweit Songs schreibt, dass Mirza live allerdings allein auftritt. Entgegen der personellen Live-Umbesetzungen hat sich musikalisch aber nur wenig verändert. Nach wie vor machen ARMS & SLEEPERS angenehm loungige Musik, die sich irgendwo zwischen Triphop und Elektro bewegt. Das kam in Storkow gut an, und nach und nach erhoben sich die ersten Reihen und fingen an zu tanzen. Ein schöner Auftritt!
KLEZ.E spielten im Anschluss auf der Bühne am Marktplatz. Hatte ich beim Maifeld Derby noch leichte Probleme, mich mit dem ganzen CURE-Gehabe zurechtzufinden, muss ich gestehen, dass diese Band musikalisch einfach sehr gute Songs schreibt. Natürlich ist hier eine Menge Pathos mit im Spiel, aber das kannte man ja auch schon von Vorgänger-Bands wie AND THE GOLDEN CHOIR. Das ändert aber nichts daran, dass Tobi Siebert einfach ein verdammt guter Songwriter ist und zum Beispiel aus sehr wenigen Tönen ein Gitarrensolo schreibt, das so glasklar und toll klingt und gleichzeitig aufzeigt, dass es keines Gefrickels braucht, um zu verzaubern.
al2017-tnDen Abschluss des ersten Abends bildeten THE NOTWIST, und damit erfüllte sich ein großer Herzenswunsch der Alinae Lumr-Booker, wie man es in Interviews vorab lesen konnte. Man danke an dieser Stelle auch der Band aus Weilheim, die anscheinend in der Lage ist zu erkennen, wenn die Macher eines Festivals ihr ganzes Herzblut in eine Sache stecken und geschmackssicher eine so tolle Parallelwelt schaffen, wie an diesem Augustwochenende in Storkow. Dass die Acher-Brüder im Innenhof der Burg zu sehr später Stunde wahrscheinlich aufgrund von Lärmschutzrichtlinien nur recht leise abgemischt wurden und ihre Songs, gerade auch in den elektronischen Parts, nicht so richtig Druck entwickeln konnten, sei den Mischern verziehen. THE NOTWIST und Alinae – ihr passt einfach gut zusammen.

Am zweiten Tag entschied sich meine Begleitung für Benzin und gegen Promille. Der lange Heimweg, die kurze Nacht und ein Muskelkater im Allerwertesten ließ sie die Fahrräder schon einen Tag früher zurückgeben als geplant. Mir war es recht. Zugleich sicherte man uns zu, dass das schlechtere der beiden Räder nun wirklich entsorgt werde, als wir von den Mängeln berichteten. Es sei den zukünftigen Naturcampern am Springsee gegönnt, falls sie sich ein Rad ausleihen wollen.
Wir begannen den zweiten Tag musikalisch im oben schon erwähnten Mitmachpark Irrlandia. Hier konnten Festivalbesucher am gesamten Wochenende kostenlos durchs Maislabyrinth streunen, Trampolin springen oder die Wasserbombenwurfanlagen nutzen. Klingt wie ein Paradies für große und kleine Kinder? Das war es auch. Nur manchmal machten Verbotsschilder dem allzu ausgelassenen Treiben der junggebliebenen Erwachsenen einen Strich durch die Rechnung. Aber man muss ganz ehrlich sagen, dass das Personal schon recht großzügig das eine oder andere Auge zudrückte.
al2017-mkDabei war es eigentlich der Auftritt von MARTIN KOHLSTEDT, der uns ins Irrlandia lockte. Der Weimarer Pianist spielte inmitten des Parks unter einem Weidendom seine atmosphärischen Klänge, und wer sich nun wundern mag, wie ruhige Modern Classics mit einem Park für Kinder zusammenpassen mag – hervorragend! Wenn man sich umschaute, konnte man sehen, wie viele Zuhörer mit geschlossenen Augen andächtig lauschten, und tatsächlich vermittelte das Schließen der Augen einen ähnlichen Effekt wie an einem Sommertag am Badesee. Das Kindergeschrei rückte plötzlich in den Hintergrund, und man fühlte sich vollkommen tiefenentspannt – MARTIN KOHLSTEDTs gefühlvolle Musik unterstützte diese Stimmung zusätzlich.
Etwas wilder ging es im Anschluss daran bei LOWLY zu. Mag der Grundton vielleicht im ruhigen Dream-Pop verorten zu sein, wurden zwischendurch so viele schräge Effekte eingesetzt, dass SONIC YOUTH zu ihren lauten Zeiten nicht allzu weit weg waren. In diesen Momenten wurde die Band aus Aarhus vor allem von den schönen Stimmen ihrer beiden Sängerinnen zusammengehalten.
Nicht weniger schräg ging es auf dem Marktplatz mit OUM SHATT zu, die seit ihrem vor einem Jahr erschienenen Debüt ziemlich steil durch die Decke gingen und zuletzt auf zahlreichen Festivals vertreten waren. Fast verwunderlich, denn für den Mainstream sind ihre orientalisch klingenden Harmonien eher nicht geeignet. Aber vielleicht ist es gerade diese einzigartige Mischung aus Orientalistik, Surfgitarren und einer an FRANZ FERDINAND erinnernde Stimme, die die Band aus Berlin so interessant macht.
al2017-agfNeben dem Mühlenfließ ging es ebenfalls mit einer Band aus Berlin weiter, die die besondere Ehre hatte, bereits zum dritten Mal auf dem Alinae Lumr vertreten zu sein. Das nennt man wohl „Hausband“, und diesen Status hatten die vier jungen Herren nicht zu Unrecht inne. Mag man sich auch den langweiligsten Bandnamen der Welt ausgedacht haben, für die Musik traf das keineswegs zu. AG FORM erinnerten mich im ersten Moment noch an die tollen TOE aus Japan, doch auf den zweiten Blich fiel auf, dass die angejazzten Gitarren auch nicht weit weg von KARATE waren. Nach dem Konzert erfuhr ich, dass in Kürze ihr Debütalbum erscheinen wird, und wenn man nach der Stimmung in Storkow geht, wird es sich bei ihnen nicht mehr lange um einen Geheimtipp handeln.
Den Geheimtippstatus haben DEERHOOF aus San Francisco schon lange nicht mehr inne, was aber vermutlich eher an ihrem Durchhaltevermögen im Musikbusiness als an ihrer Zugänglichkeit liegt. Mag man die musikalische Herangehensweise von BLONDE REDHEAD schon für speziell halten, so legen DEERHOOF in Sachen Weirdness noch einige Schippen oben drauf. Auch wenn ich persönlich durchaus ein Fan von nicht allzu eingängiger Musik bin, bin ich bei DEERHOOF jedoch raus. Offensichtlich war ihr Art-Rock auch für ein Großteil des Publikums zu verstörend, denn für einen Mainact auf der größten Bühne war im Zuschauerbereich doch noch ziemlich viel Platz. Dafür konnte man den einen oder anderen Musiker der anderen Bands dort ausmachen.
Vergleichsweise ruhig ging es auf dem Marktplatz mit GIRLS IN AIRPORTS weiter, wenngleich man sagen muss, dass selbst die fünf Kopenhagener mit ihrem melancholisch-exotischen Jazz nichts für die Massen sind. Umso verblüffter war ich über die positive Resonanz des Publikums, wenn man bedenkt, dass die Bühne am Markt nicht nur für Festivalbesucher mit Bändchen zugänglich war und sich hier auch viele Anwohner tummelten, die daran teilhaben wollten, wenn in Storkow mal was passiert. In diesem Moment durchströmte mich ein Gefühl des Glücks, wenn man das Alinae Lumr mit den zahlreichen anderen Festivals vergleicht, die es hierzulande gibt und deren musikalisches Programm in meinen Augen meist mehr oder weniger beliebig und lieblos zusammengewürfelt wurde. In Storkow sieht man, dass selbst ungewöhnlichere Musik im öffentlichen Rahmen funktioniert, wenn die Menschen gewillt sind, sich darauf einzulassen.
Ebenfalls einlassen musste man sich auf SEA MOYA, denn stilistisch festgelegt ist die Band aus Köln und Mannheim nicht wirklich. Fühlte man sich in einem psychedelischen Moment noch an die ΩRACLES erinnert, wurde es plötzlich sehr tanzbar und der funky Bass ließ an METRONOMY denken. Die Versuche des Drummers, das Publikum zum Tanzen zu motivieren mögen zwar fehlgeschlagen sein, doch der lauschige Platz zwischen Fluss und Apfelbaum lud einfach auch zum Ausruhen und Zuhören ein. Dies also bitte nicht als Kritik verstehen!
al2017-wwDen Abschluss des zweiten Abends bildeten WHITE WINE, die auch schon auf dem Maifeld Derby als abschließender Act auftraten. Die neue Band mit Musikern von u.a. 31 KNOTS und ZENTRALHEIZUNG OF DEATH passt aber auch perfekt in die späte Stunde, wenn die Sinne der Übriggebliebenen von Alkohol oder anderen Drogen zum Teil schon ein wenig benebelt sind. In diesem Moment entfalten WHITE WINE ihre volle Wirkung, deren Auftritte eher einem Happening als einem klassischen Konzert ähneln. Das ist aber auch Joe Haeges volle Absicht, der wie ein Adrenalinjunkie über die Bühne tobt, zwischen E-Drums, Keyboard, Gitarre und Gesang wild hin und her wechselt und nicht selten ins Publikum springt, umhertaumelt, sich wie tot auf den Boden fallen lässt, um im nächsten Moment wieder auf die Bühne zu klettern und weiter zu singen, als wäre nichts geschehen. Ein toller Auftritt, mit Zugabe, auf dem Reeperbahn-Festival sehen wir uns wieder!

Am Sonntag herrschte Aufbruchstimmung. Unser Schlaf-Fass musste bereits um 9 Uhr geräumt werden, auch am Marktplatz wurden die Stände abgebaut, Reste vom Vorabend beiseite geschafft, aber immerhin gab es noch frischen Kaffee und heiße Crêpes.
Eigentlich machten auch wir nur ausgiebig Siesta, weil ich endlich mal FS BLUMM live sehen wollte. Zum Zeitvertreib schauten wir noch in der Kirche beim RICHARDCHOR NEUKÖLLN vorbei und waren doch ein wenig überrascht. Haftet Kirchenchören in der Regel doch etwas Altbackenes an, fiel der Berliner Chor nicht nur deshalb aus der Reihe, weil die Chormitglieder im Durchschnitt nicht viel älter als Mitte zwanzig gewesen sein mögen. Ist spießig tatsächlich das neue cool? Könnte man meinen, wenn man auch den Trend zu Kleingartenparzellen und Tatort-Abenden berücksichtigt. Die Kaffee- und Kuchen-Kultur wird in Schweden übrigens schon seit Jahren von Twenty-Somethings in gediegenen Cafés zelebriert. Warum also nicht? Spießigkeit haftete dem RICHARDCHOR NEUKÖLLN jedenfalls keineswegs an, und gute Stimmen hatte der Chor zudem zu bieten. So war man fast ein wenig verwundert, als sich Chorleiter Paul Pattenheimer am Ende entschuldigte, dass man heute nicht so gut gesungen habe, weil viele noch verkatert waren.
al2017-fsbWie schon erwähnt wollten wir noch den Auftritt von FS BLUMM, heute im Duo mit JEFF ÖZDEMIR abwarten. Erstaunlich, dass der gebürtige Bremer, der mit richtigem Namen Frank Schültge heißt, meinen musikalischen Werdegang schon seit Ewigkeiten begleitet, ich ihn aber noch nie live gesehen habe. Zu Beginn noch mehr im Noise-Rock zu Hause, hat BLUMM sich zuletzt in immer mehr musikalischen Projekten und Stilen ausgelebt, im Duett mit JEFF ÖZDEMIR gab es minimalistisch gestalteten LoFi-Pop zu hören, der dem lauschigen Platz am Mühlenfließ einen würdigen Abschluss des diesjährigen Alinae Lumr-Festivals bescherte.
Tschüß Storkow, wir werden uns nächstes Jahr ganz sicher wiedersehen!